Theo Harych: „Im Geiseltal“

Im Wartesaal vierter Klasse

Gerade mit dem Personenzug aus Schlesien angekommen, atmet Theo, der junge Ich-Erzähler des Romans Im Geiseltal von Theo Harych, erleichtert auf.

Merseburg! Viele Jahre hatte ich von dieser Stadt geträumt, sehnsüchtig auf den Tag gewartet, der mir die Freiheit bringen, mich aus den Klauen meiner Peiniger befreien sollte. Hier in der Nähe lag das Geiseltal mit den vielen Kohlengruben und Fabriken – das Land meiner Träume, wo ich Brot und Arbeit zu finden hoffte und ein neues, schöneres Leben beginnen wollte.

Theo ist fünfzehn Jahre alt. Wer verstehen möchte, wieso die Industriearbeit ihm eine solche Verheißung ist, möge sich in Harychs Roman Hinter den schwarzen Wäldern vertiefen, der Theos Vorgeschichte als Bursche im waldigen Gebiet an der Grenze Niederschlesiens zur Woiwodschaft Großpolen erzählt. Theo malocht für Bauern und erhält Prügel und ein ab und an ein Stück Brot: fürs Leben zu wenig, fürs Sterben zu viel.


Theo wird das Elend des Proletariats kennenlernen, die Solidarität der Arbeiterklasse, die unterschiedlichen Positionen der SPD und der KPD, Streiks, harte Knochenarbeit (zunächst in einer Zuckerfabrik, dann im Kohletagebau), Kälte, Arbeitsunfälle, Ungeziefer, Müdigkeit, Hunger. Er wird sich durchs Leben schlagen, nicht ohne die Unterstützung seiner beiden Brüder, Erwin und Paul, die für sehr unterschiedliche Lebenswege stehen.

Erwin, der älteste der drei Brüder, ist ein redlicher Arbeiter, der sich mit den schlechten Lebensbedingungen irgendwie zurechtfindet, sich den Lohn am Mund abspart, um demnächst heiraten zu können. Radikale Äußerungen sind ihm fremd. Ebenso verachtet er Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten und kriminell werden.

Paul ist in Kontakt mit Helmut Rakot. Dieser hatte den Ruf eines guten Arbeiters, aber die Ungerechtigkeit gegenüber den Arbeitern lässt ihn einen individuellen Weg gehen, den der Rache. Rakot überfällt „die da oben“, nimmt sich das Geld, das ihm zusteht und scheut nicht davor zurück, Menschen zu ermorden. Er ist ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher, der Paul als seinen Kompagnon in Beschlag nimmt. Die immer größeren Verbrechen und die Jagd nach Rakot stellen einen Handlungsstrang des Romans dar, der für Spannung sorgt und ihn in Richtung Krimi verschiebt.

War Rakot zunächst in der Arbeiterschaft hoch angesehen, weil er für etwas Gerechtigkeit sorgte, wird im Verlauf des Romans deutlich, wie sehr sein Verhalten der Arbeiterschaft schadet und der Parteiarbeit der KPD zuwiderläuft. Diese setzt auf Solidarität und politischen Druck auf die Arbeitgeber durch Streik, um fundamentale Rechte der Arbeiter durchzusetzen, höhere Löhne, menschenwürdige Unterbringung etc. Stellvertetend dafür stehen die Figuren Pomera, Bobbke, Brandel, Griebner, Parteifunktionäre, die ihr Leben im Kampf gegen die Kapitalisten verlieren oder von der Sicherheitspolizei (Sipo) eingesperrt werden.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man für Geld kämpft oder für die Freiheit. Das zeigte sich bei den schweren Kämpfen der Arbeiter gegen die Sipo. Gutgekleidete und gutgenährte Männer, mit den modernsten Waffen und Nachrichtenmitteln versehen, standen in überwältigender Mehrheit den ausgemergelten, in zerrissene, dünne Lumpen gekleideten Arbeitern gegenüber, die oft, mit primitiven Waffen und wenig Munition versehen, den überlegenen Gegner bezwangen. Hunger, Ausbeutung und brutale Unterdückung machten Helden aus ihnen, die zu den Waffen griffen, um das kapitalistische Joch für immer abzuwerfen.

Hier wird die Prosa Harychs, wie an anderen Stellen auch, zu deklamatorisch. Sicher sind das jene Stellen, die auch von den SED-Funktionären in der DDR gerne gelesen wurden. Wenngleich Harychs Handlung in den frühen Zwanzigern spielt (Kapp-Putsch 1920, Mitteldeutscher Aufstand 1921) ist es von diesen Passagen ein kurzer Weg hin zu dem vom Autorenkollektiv um Karl-Heinz Leidigkeit verfassten Buch Gegen Faschismus und Krieg – Die KPD im Bezirk Halle-Merseburg 1933 bis 1945, das noch im Jahr 1985 für gute gesellschaftlichliche Leistungen anläßlich der Woche der „Jugend und der Sportler“ übergeben wurde:

Wie die KPD insgesamt, so führte auch die KPD-Bezirksorganisation Halle-Merseburg den Kampf gegen Faschismus und Kriegsgeafhr schon lange von 1933. Seit ihrer Gründung kämpfte die KPD im „roten Herzen Deutschlands“ aufopferungsvoll und mit wachsendem Erfolg gegen die monokapitalistische Herrschaft, die Quelle der faschistischen Gefahr, für die Tagesinteressen und für die sozialistischen Zukunftsziele der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen.

Vorbild für die Figur Rakot ist offenbar Max Hoelz, der Sprengstoffattentate und Zugentgleisungen verübte. Gerät Rakot in Harychs Roman vollends zum Kriminellen, der nur noch private Rechnungen begleicht und am Ende zum Tode verurteilt wird, ist die historische Figur ein vom Anarchismus geprägter Kommunist, der wegen Disziplinlosigkeit aus der Partei geworfen wird und 1933 in der Sowjetunion unter ungeklärten Umständen ertrinkt.

Paul wird wegen seiner Beteiligung am Eisenbahnattentat Rakots verhaftet. Er erhängt sich in seiner Zelle. Auch der Schriftsteller Theo Harych wählt 1958 den Freitod.

Heute ist das Geiseltal geflutet. Der Geiseltalsee bietet den Menschen des 21. Jahrhunderts umfangreichen Freizeit- und Sportaktivitäten. Über die Geschichte des Geiseltals informiert die Webseite www.geiseltal.de.