Anja Liedtke: „Blumenwiesen und Minenfelder“

Sühne und Befreiung

Anja Liedtke, 1966 in Bochum geboren, legt mit Blumenwiesen und Minenfelder eine Sammlung von 14 Reiseerzählungen aus Israel (und Jordanien) vor. Diese stammen aus verschiedenen Jahren, die ersten aus dem Jahr 2011, als die Autorin für die christliche Organisation Aktion Sühnezeichen in Israel war und mit Überlebenden der Shoah zusammengearbeitet hat. Spätere Reisen mit ihrem Ehemann ergänzen diesen Band, der zugleich luftig leicht und erdschwer ist:

ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
(aus: Todesfuge von Paul Celan)

Liedtkes Blick auf Israel, seine Bewohner, seine Geschichte, seine Nachbarn ist (geistes-)gegenwärtig und von Offenheit geprägt. Sie ist in die Region gekommen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Wo Schubladendenken oder (Vor-)Urteile Raum zu gewinnen suchen, stellt Liedtke diese in Frage und arbeitet sich daran ab. Ihre Sprache ist präzise und differenziert. Sie benennt die Dinge und zeigt uns die Vielfalt auf. Durch diese Disziplin gelingt es, nahezu im Vorbeischreiten, -schlendern die Komplexität der Geschichte des Staates Israel und der Konflikte mit den palästinensischen Nachbarn auf der Ebene des menschlichen Neben- bzw. Miteinanders aufzureihen, jenseits der Interessen der Politik, die zur Vereinfachung, zur Formel, zur Phrase neigt.

In die  blauen Busse steigen ausschließlich Araber und Touristen. Besitzer israelischer Pässe dürfen die Checkpoints höchstens in Ausnahmefällen passieren. Das soll Gewalttaten verhindern. Vor allem aber trennt es die Menschen voneinander, sodass eine mündliche Auseinandersetzung, ein klärendes Gespräch unter Nachbarn, ein Aufeinanderzugehen bereits im Ansatz unterbunden wird. Mitteilungen und Nachrichten vermitteln allein Medien, Militärs, politische und religiöse Führer. Ob deren Aussagen über die andere Seite wahr sind oder von eigenen Interessen verbogen, lässt sich über und durch die Betonmauer und die Checkpoints weder erfahren noch erfragen.

Ein weiteres Beispiel:

Der Vorsinger wechselt ins Gebet und die Gemeinde antwortet, sobald seine Stimme herausfordernd ansteigt oder abbricht. In anderen Phasen des Gottesdienstes betet oder singt jeder für sich.
Als neugierige Christen in Deutschland durch die Fenster der Synagogen schauten und hörten, was für ihre Ohren wie Unordnung klang, prägten sie den Spruch: „Hier geht es zu wie in der Judenschul“. Eine Generation später haben sich die Werte geändert. Mir vermittelt dieses individuelle Vorgehen den Eindruck, als fänden nicht strenge, leere Rituale statt, sondern eine natürliche , entspannte Religiosität.

Wo sprachliche Präzision die Grundlage des Schreibens ist, da fällt die Stelle auf, die selbige vermissen lässt.

Beim Äthiopier esse ich eine Art Szegediner Gulasch. Er wird auf einer Platte grauen, porösen und gummiartigen Teigs serviert.

Das traditionell in Äthiopien und Eritrea aus Teff (Zwerghirse) gefertigte gesäuerte Fladenbrot heißt Injera. Die umschreibenden Adjektive neigen zur Ungenauigkeit und liefern eine Wertung mit. Welches Brot möchte als gummiartig gelten?

Die Begegnungen mit Meir Schwarz und Ester Golan darf man bei aller Schönheit/Schroffheit der Landschaften, die Liedtke vor uns ausrollt und mit ihrer großen Kenntnis der Fauna und Flora lebendig werden lässt, als entscheidend für dieses Buch und den damit stattfindenden Bewusstseinsprozess der Autorin erachten.

Liedtke bringt schweres Gepäck nach Israel mit. Wie nicht als Deutsche? Der Sack beinhaltet Schuld und Sühne, beinhaltet 6 Millionen durch die Nazis ermordete jüdische Menschen und der Frage, ob diese Schuld eine Erbschuld ist, eine Schuld, die an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.

Das Wort Sühne war für mich stets ein schwieriges. Und es stand immer im Zusammenhang mit der Shoah und der Aktion Sühnezeichen. Sühne ist per Definition ein Akt des Menschen, der schuldig geworden ist, mit dem Ziel durch eine Ausgleichshandlung die Schuld abzutragen oder zumindest zu mindern.

Nach meinem Verständnis kann Sühne nicht von den Nachkommen der Schuldigen geleistet werden. Was nicht heißt, dass ich nicht eine besondere Verantwortung sehe, als Deutscher, Jahrgang 1965, sich der NS-Vergangenheit zu stellen und sich jeglichen Antisemitismus (auch des eigenen, durch nicht aufgearbeitete Aneignung dessen, was die Vorfahren mitgegeben haben) gewahr zu werden.

Mit der Figur des Staatsanwalts i. R. Günther Rosenbach aus Barbara Zeizingers Roman Am weißen Kanal ist mir der Begriff der Sühne deutlich geworden. Hier versucht derjenige, der Schuld auf sich geladen hat, sich durch eine Ausgleichshandlung von der Schuld zu befreien. Rosenbachs Versuch, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, endet mit Rosenbachs Tod, während das Kind ohne Rosenbachs Zutun überlebt. Die Sühne misslingt. Ist die Schuld dennoch durch den Versuch der Sühne abgetragen?

Mit solchen Fragen beschäftigt sich auch Liedtke.

Je länger ich Ester kenne, desto intensiver wird der Eindruck, dass wir die gleiche seelische Veranlagung besitzen. Bei beiden liegen die Ursachen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges. Obwohl Ester 88 Jahre alt ist und ich 44 bin. Sie ist ein Opfer des Nationalsozialismus und ich ein spätes Kind der Tätergeneration. Darum arbeite ich bei Aktion Sühnezeichen. Ester sagt darüber: Sühne? Quatsch. Du hast mir nichts getan.
[…]
„Ester, was tue ich hier, wenn Sühne Quatsch ist, weil ich dir nichts getan habe?“
Sie weiß nicht, dass diese ihre Aussage die Lösung meines inneren Konfliktes bedeutet. Die letzte Markierung meines anstrengenden Weges. Ich nehme mir vor, mir das Datum zu merken, obwohl es keine Rolle spielt. Es spielt auch keine Rolle, was nachher kommt, es spielt keine Rolle, ob ich von nun an glücklich werde. Wichtig ist nur der Augenblick der Befreiung. Das ist das Ziel meines bisherigen Lebens.

Ein kluges Buch, das Fragen stellt und sich vorgegebenen Antworten verweigert.