Noémi Kiss: „Schäbiges Schmuckkästchen“

Noémi Kiss: Schäbiges Schmuckkästchen

Die 1974 geborene Ungarin Noémi Kiss reist in den Osten Europas. „In Osteuropa gibt es wohl nichts Aufregenderes als die verlassenen Orte“, schreibt sie. Kiss ist auf der Suche nach einer vergangenen Zeit, an Orten die einst multiethnisch, multikulturell waren, Schmelztiegel der Sprachen und doch sich heute zumeist nur noch nationalistisch definieren oder vielleicht besser: definieren lassen müssen.

Die von Kiss bereisten Gebiete, Bukowina, Siebenbürgen, Galizien, Vojvodina, sind mir völlig unbekannt. Und ich gestehe die Mühe, die ich hatte, aus den Reisebeschreibungen und kenntnisreichen Hintergrundinformationen zur Geschichte, Bilder entstehen zu lassen, konkrete, sinnliche Bilder.

Erst die Hunde, die behaglich an den Schafshufen lutschen, haben mich aus diesem Dilemma befreit. Aber wie konnte ich hineingeraten in eine Bildlosigkeit? Kiss beschreibt die Abwesenheit. „Auf dem Weg nach Czernowitz gelangen wir bald an den Rand der Dinge.

Das ist ein poetischer Satz, den ich mit Inhalten füllen möchte. Und tatsächlich gebraucht die Autorin eine ähnliche Technik, wenn sie schreibt: „Was nicht da ist, das stellen wir uns vor und fügen es wieder ein.“ Geht dabei die Bildkraft verloren?

Vielleicht waren sich Verlag und Autorin bei der Präsentation des Buches auf der Leipziger Buchmesse 2015 dieser Gefahr bewusst. Die Lesung wurde durch eine schnelle Abfolge von Fotos der bereisten Städte und Gebiete begleitet. So konnte die Oberfläche projiziert werden, die die Autorin im Grunde nicht interessiert, höchstens im Sinne einer Ausgangsschicht, von der aus tiefer liegende Schichten geborgen werden müssen. Aber lässt sich lang zurückliegende Anwesenheit in der Abwesenheit visualisieren?

Als mich die Zweifel schon längst annagten, ich könne dieses Buch einfach nicht richtig lesen, zwar die ungeheure Detailmenge aufnehmen, aber nicht bildlich abspeichern, hat mich die Autorin doch noch gerettet. Im Kapitel „Die englische Schule“ reist Kiss in ihre Heimat, sucht, untersucht ihre Erinnerungen an Gödöllő. Das ist der sinnlichste Teil der Reise und auch der literarischste. Alles was ich zuvor vermisst hatte, war hier vorhanden.

Die Würdigung ihrer Großmutter liest sich im Schnelldurchlauf wie folgt:
Sie war Lehrerin. Sie war Lehrerin. Sie war Lehrerin. Sie war Schaffnerin. Sie war Köchin. Sie war Telefonistin. Sie war Garderobiere. Sie war Richterin. Sie war Metaphysikerin. Sie war Mörderin. Sie war Verräterin. Sie war Tyrannin. Sie war Fotografin.

Hier entsteht ein Familienalbum, durch das ich als Gast gerne blättere, dessen fremde Bilder mir eine Annäherung erlauben.