Julia Cimafiejeva: „zirkus“

von den spreißeln
Julia Cimafiejevas Schmerz

ich versuche
zu verstehen
(aus: ich lese ein fremdsprachiges gedicht)

wie es Thomas Weiler und Tina Wünschmann ergangen ist, als sie die Gedichte der Lyrikerin Julia Cimafiejeva übersetzt haben. Die 1982 geborene Weißrussin legt in diesem Gedicht einige Metaphern aus und fragt, wo diese hinführen? Ist das Übersetzerduo gleich der Autorin aus den Tritt gekommen, im Sumpf fremder Wörter versackt, hat sich schließlich an der den Sumpf überbrückenden Bohle die Finger verletzt; Holzsplitter in den Kuppen?

Davon ist im Ergebnis nichts zu spüren und doch spricht zirkus, diese von Cimafiejeva selbst zusammengestellte Auswahl ihrer lyrischen Produktion für eine erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache, vom Schmerz. Lässt ihn in der Übersetzung lebhaft und unmittelbar werden. Die Metaphern führen, um die aufgeworfene Frage zu beantworten, immer zu dem Ort, von dem wir kommen und dessen Stimme stärker ist als wir. Wie um dafür einen Beweis abzulegen, wählen Weiler und Wünschmann unbewusst das Wort Spreißel für Holzsplitter. Zumindest eine, einer der beiden ist in Süddeutschland verwurzelt und hat das Wort aus der Heimat, aus der Erinnerung, aus dem Idiom, weit entfernt vom Jetzt, in diesen Band eingeschrieben. Weiler stammt aus dem Schwarzwald.

Hätte ich die Befugnis, weißrussische Moore zu durchqueren, meine Fingerkuppen wären voller Schliwwer. Das Wort Schliefer leuchtet mir nicht ein, das Eindringen des Holzfaser geschieht so schnell, dass mir ein langgezogenes ie fehlerhaft erscheint und dem daraus resultierenden Schmerz nicht gerecht wird.

die stimme des ortes,
von dem wir kommen,
ist stärker als wir.
sie setzt über den
vom beschwerlichen weg
gekrümmten rücken
und eilt uns voraus.
sie erzählt lautstark allen,
die ihr begegnen,
wer wir sind und wie wir waren,
dort, woher wir kommen.
(aus: die stimme des ortes …)

Die Stimme des Ortes, von dem wir kommen, die Stimme der Heimat, setzt über, übersetzt. Sie sitzt nicht fest, ist nicht Widerhall der Scholle, sondern fördert die Bewegung.

unser meer ist die erde
du hast das tau gelöst
schwimmst weit dahin
im hölzernen kahn
ganz hinein ins innere der erde
fort von der schneebedeckten wiese
(aus: der kahn)

Der Gedichtband ist in drei Kapitel aufgeteilt, die jeweils mit leichter Verschiebung Identität ausloten: Identität der Heimat, Identität des Geschlechts, Identität des Schreibens. Was eine Kapiteleinteilung vermag, bleibt in der Person untrennbar miteinander verflochten.

der körper der dichters gehört seiner heimat.
der entrechtete boden spricht durch des dichters mund,
die augen des dichters sehen die ungerechtigkeit der qualen,
die ohren des dichters hören die schreie der unschuldigen opfer.
[…]
heimat!
brauchst du auch meinen körper, den einer dichterin?
(aus: der körper der dichterin)

Für mich, der seine Heimat gern zu leugnen sucht und sich angesichts Cimafiejevas Worten der Sinnlosigkeit gewahr wird, sind die Gedichte des ersten Kapitels von höchster Qualität und ein vergnüglicher Leserausch, wenngleich die existenziellen Konflikte schon im ersten Gedicht mit den ersten beiden Zeilen deutlich und bedrohlich werden.

ich kam zur welt
mit diesem wanderzirkus in mir.
(aus: zirkus)

Ein furioses Gedicht, ein grandioser Auftakt zu einem Band, der folgerichtig auch den Namen dieses Text trägt. Mit das feld I und das feld II wird die Qualität der lyrischen Stimme gehalten, ausgebaut.

ich bin euer kind,
das feld hat auch auf mich ein recht.
doch meine beine wanken,
die hände wollen die furchen nicht glätten.
(aus: das feld I)

Das Gedicht mit dem schlichten Titel 1986 erzählt von der Zwangsumsiedlung nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in unmittelbarer Nachbarschaft. Ich prüfe mein Gedächtnis, es muss der 26. April gewesen sein, der das Leben in diesem weißrussischen Dorf (und Europa) verändert hat und die Grenzregion in ein Sapowednik mit dem unheimlichen Namen Polessisches Staatliches Radioökologisches Schutzgebiet verwandelt hat, das bis heute nur mit Sondergenehmigung betreten werden darf. Ja, wir erinnern uns, aufgefrischt durch Fukushima 2011, die Halbwertszeiten der radioaktiven Nuklide haben deutlichen Vorsprung vor dem menschlichen Gedächtnis.

wir konnten euch nicht mitnehmen,
ihr beinlosen häuser.
(aus: 1986)

Die individuelle Rastlosigkeit der Autorin wird gegen den Verlust der Heimat gestellt, die Lust zu gehen gegen den Zwang zu gehen. Hierin erfüllt sich die Aussage von Valzhyna Mort, die in ihrem Nachwort zu Cimafiejevas Poesie von einbeinigen Gedichte spricht, ein Bein auf dem Blatt, eins außerhalb, eines in der Zone, eines außerhalb. Dabei denke ich an die Stalker, die zwischen diesen Welten wandeln: kein Picknick am Wegesrand!

Eindrücklich auch die Zeilen, die Cimafiejeva einer weiteren Lebensstation widmet.

ich fürchte deine kinder,
Žłobin,
gegossen aus metall,
genährt
von den stinkenden zitzen der fabrik.
(aus: der ersten stadt)

Die Existenz des Wanderzirkus‘, war sie nur eine kindlich-naive Phantasie, eine Mär? Und die Verheißung der Jongleure, Akrobaten und bärtigen Jungfrauen, die ihre Körper und Geschlechterzuschreibungen schandvoll durcheinanderwirbeln, eine Verirrung?

die straße hat
von kreuzung zu kreuzung
eben zu sein und gefügig.
die straße, von geburt an benannt
nach einem general mit schnauz,
hat jungfräulich lieblich zu lächeln
(aus: die straße)

Die Gedichte des zweiten Kapitels bergen solche Klarstellungen, zweifeln an der Richtigkeit einer männlich dominierten Welt, stellen feminine Werte dagegen, mit der Wucht des Schmerzes  und der Enttäuschung.

ich bin schwach
klein
eine frau
verfangen
im netz meiner
zweifel
wie eine Maifliege

an meinen
kurzen flaggenmast
hisse ich
fragen
abwägungen
fehler
unsicherheiten
(aus: die stadt feiert …)

Ihre Selbstentblößung treibt die Autorin konsequent und kraftvoll voran, sich der Schönheit der Schwäche bewusst, die von anderen erst ausgekostet, dann ausgemerzt werden will.

„ausziehen!“
ich lege mantel und stiefel ab.
„ ausziehen!“
ich lege strumpfhose, rock
und pullover ab.
„ ausziehen!“
ich werfe slip und bh ab.
nackt steh ich da, eine blume.
(aus: strip)

Das letzte Kapitel thematisiert das Schreiben. Ich schicke vorweg, dass mich Gedichte, die sich mit dem Vorgang des Schreibens beschäftigen und Vorbilder benennen, oftmals Mühe kosten. Eine Einordnung in die Literaturgeschichte, das Wissen um das literarische Erbe ist notwendige Voraussetzung für die eigene lyrische Produktion. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das stets ein guter Gegenstand für ein Gedicht ist. Cimafiejeva setzt in ihren beiden letzten Gedichten jedoch kluge Kontrapunkte und wischt meine Bedenken beiseite.

nur in mir zu graben
haben sie mich gelehrt,
diese bücher.
(aus: nicht lesen können)

wenn du dies gedicht liest,
bist du nicht mein leser.
(aus: negation)

Nicht überlesen werden soll der Austausch des lyrischen Ich mit einem lyrischen Du, der dem 1975 in Minsk geborenen Alherd Bacharewitsch gewidmet ist. Mehr über den Autor zu schreiben, würde aber bedeuten, eine Straße nach ihm zu benennen, die in Wirklichkeit nach innen wächst und zart und leise singt.

zwischen uns ist das wort
in meinem mund ist sein anfang,
in deinem sein ende.
das wort ist ein luftfisch.
wir haben uns verbissen in ihn
und wollen ihn nicht mehr lassen
(aus: für Alhierd B.)

Julia Cimafiejeva ist eine starke europäische Stimme, die wir dank Thomas Weiler und Tina Wünschmann, dem Verleger Andreas Rostek und der freundlichen Unterstützung des Goethe-Instituts Minsk in deutscher Sprache erleben können. Europa muss noch viel näher zusammenrücken. Solch gelungene Teamarbeit macht es möglich und sollte Vorbild für andere Mutige sein, Europa und die Lyrik nicht abzuschreiben.