Frankfurter Buchmesse 2019, Ehrengast: Norwegen
Zerstäubte Seelen
Mit Die Zeit ist gekommen in der Übertragung von Åse Birkenheier wird dem deutschen Publikum der zuletzt erschienene Band Tida er inne (2017) des norwegischen Dichters Knut Ødegård zugänglich gemacht. Bis auf einige verstreute Übersetzungen ist dieser Band die Premiere eines in Nordeuropa sehr bekannten und erfolgreichen Dichters, der 1945 in Molde geboren wurde.
Mittlerweile bin ich routiniert genug, eine Rezension so zu schreiben, dass sie die Leistung des Autors und seiner Übersetzerin kritisch und umfänglich würdigt, in Abwägung dieses und jenes Aspekts. Eine Vorgehensweise, die gelingt – und mich in diesem Fall nicht interessiert.
Ich will über den Schock sprechen, den das Gedicht Leukotomie ausgelöst hat.
Ob dabei eine Rezension oder ein Essay entsteht, kann ich noch nicht wissen, jedenfalls eine Auseinandersetzung mit einem Stück Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts, der Psychochirurgie, die mir ein zentrales Anliegen nach der Lektüre des Buches ist. Ich denke, das ist durchaus in der Absicht des Autors, auch wenn ich dabei die anderen Gedichte unbesprochen lasse und keinen Gesamteindruck des Bandes liefere.
Er hieß Lars, Mutters
Cousin.
Ihm wurde das leuchtende Eisen des Chirurgen
in den Schädel gebohrt,
in seine weichen Gehirnzellen hinein,
in der Stadt Molde.
Das Gedicht zeichnet Lars‘ Leidenweg nach und arbeitet mit einer Mischung aus Fiktion und Fakten. Es wird deutlich, dass Knut Ødegård sich intensiv mit der Leukotomie | Lobotomie auseinandergesetzt, Recherche über diesen neurologischen Eingriff betrieben hat, der bis heute heftig umstritten ist, und dessen Hauptverfechter in Norwegen der Arzt Ørnulv Ødegård war, nicht verwandt mit dem Autor. Was ist die Leukotomie und wer ist dieser Arzt?
Vorweg der Hinweis, dass Leukotomie und Lobotomie als synonyme Begriffe vom Autor und im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werden.
Die Lobotomierten
haben das Gefühl, wie Tote
im Meer zu treiben […]
Die präfrontalen Leukotomie als Operationsverfahren wurde vom Portugiesen António Egas Moniz (1874 – 1955) entwickelt, für das er 1949 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. 10 Jahre zuvor war er von einem Patienten angeschossen worden, fortan war Egas Moniz auf einen Rollstuhl angewiesen. Man kann diese beiden Ereignisse als Antagonisten seiner medizinischen Karriere betrachten.
Mit der Person, seinem Schaffen und den ethischen Fragen rund um die Leukotomie aus heutiger Sicht und aus der der damaligen Zeit setzt sich Rainer Fortner unaufgeregt, sachliche Argumente abwägend, in seiner Dissertation auseinander, die online einsehbar ist und denjenigen zur Lektüre empfohlen werden kann, die sich in die Materie vertiefen möchten:
Rainer Fortner. Egas Moniz (1874–1955)- Leben und Werk unter Berücksichtigung der Leukotomie und ihrer ethischen Implikationen. lnaugural-Dissertation, Medizinische Fakultät der Universität zu Würzburg (Juni 2003)
Unstrittig ist, die Anzahl der psychischen Erkrankungen nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu. Therapieverfahren mussten entwickelt werden, dazu wurde letzten Endes auch am Menschen experimentiert.
Moniz hat in seiner ersten Versuchsreihe 20 Patienten lobotomiert. Die Diagnosen der Patienten waren verschieden, reichten von Verfolgungswahn, Angst, Suizidgefahr, Größenwahnsinn, Alkoholismus, Psychosen, Depressionen, Schizophrenie.
Die von Moniz gewählten Operationstechniken stellt Fortner ab Seite 58 seiner Dissertation dar. Sehr vereinfacht dargestellt, wurde ein mit einer Drahtschlinge versehenes Instrument namens Leukotom durch die an mehreren Stellen geöffnete Schädeldecke geführt und Nervenfasergewebe, zerschnitten. Die Operation wurde von zwei Ärzten ausgeführt.
Weiterentwickelt und vereinfacht wurde das Verfahren durch Walter Freeman (1895 – 1972) mit der Transorbitalen Methode. Wiederum sehr vereinfacht dargestellt, wählte er den Zugang über die Augenhöhlen, durchstach diese mit einem Eispickel genannten Werkzeug und wischte mit dem Werkzeug im Gewebe herum.
Die Operation konnte von einer Person ausgeführt werden und war weniger zeitintensiv als Moniz‘ Technik.
In Norwegen wurde offenbar zunächst nach Moniz‘ Technik operiert, spätestens ab den 50iger Jahren nach Freemans Methode.
Kommen wir auf Lars Leidenweg zurück. Ein 16-jahriger Bursche, der zu seinem Onkel nach Amerika geschickt wird, um die Welt zu entdecken, und in den Redwood-Wäldern dem Einfluß eines polnischen Katholiken erliegt, der ihm Satan, Fegefeuer, die Sünde und die verlorenen Seelen einflüstert. Lars erkennt den Satan in dem Polen und schlägt ihn nieder. Lars wird nach Hause geschickt. Lars hört die Stimme Satans. Lars wird eingewiesen. Lars wird im Pflegeheim Opdøl mit Insulin vollgepumpt, fällt ins Koma. Lars wird heiß und kalt geduscht. Lars wird mit Elektroschocks behandelt. Dann:
Um die Zeit, als ein verkrüppeltes Kreuz
Gottes Volk in Europa in Lager hineinzwängt, zur
sterilen Dusche, die Gas über sie
strömen lässt, und ihre Körper
zu Staub verbrannt werden, und als graublauer Rauch
in die Luft emporsteigt, zu den Gräbern da oben,
fährt das schwarze Auto am Opdøl Pflegeheim vor.
Lars wird bewusstlos gehalten, Lars
ins Auto gehievt. Lars
bewusstlos, im Schlaf mitten in einem Waldtraum
von den endlosen Wäldern Amerikas,
auf einer Bahre zum Chirurgen in der Stadt Molde gefahren.
[…]
Dann beginnt der Arzt zu bohren, ein feines Loch
in die rechte Seite des Kraniums hinein […]
In der darauffolgenden Beschreibung des Eingriffs wird deutlich, dass es sich noch um Moniz‘ Methode handelt, die allerdings nicht mehr von zwei Ärzten ausgeführt wird.
Die Nervenbahnen des Frontallappens („lobus
frontalis“ sagte der Arzt zur unwissenden
Schwester, die assistierte) die Nervenbahnen
wurden durchgeschnitten.
Diese Operation ist unweigerlich mit Ørnulv Ødegård verbunden, wenngleich er sie nicht ausgeführt hat. Ab 1938 war er Chefarzt und Direktor des Gaustad Krankenhauses in Oslo und führte 1941 die Leukotomie dort ein. Er hat die medizinischen Standards nicht nur für die Hauptstadt gesetzt.
Vater, selbst vom Frost gezeichnet, meinte, Irrenhäuser
seien besser als Lobotomie, zu verrückt sei es,
in die Köpfe der Menschen hineinzubohren.
(aus: Großtante)
Nehmen wir diese Aussage als biografisch wahr an, so wird deutlich, dass es innerhalb der Familie Ødegård eine kritische Auseinandersetzung mit dem Arzt aus Oslo (und Namensvetter) gab. Diese ist bis heute nicht abgeklungen, was sowohl das Gedicht als Beweisstück lyrischer Natur belegt, als auch die Diskussion um eine verharmlosende Darstellung Ørnulv Ødegårds, wie der Beitrag von Joar Tranøy und Wenche Blomberg von 2005 belegt (abgerufen am 26.08.19).
Neben seiner Befürwortung der Lobotomie steht Ørnulv Ødegård in der Kritik, weil er norwegische Frauen, die eine Beziehung zu deutschen Soldaten eingegangen waren, und den Kindern, die aus diesen Beziehungen hervorgingen, eine niedrige Intelligenz unterstellte. [Zu den Motiven der Frauen bzw. ihre gesellschaftliche Marginalisierung vgl. Regina Mühlbauer Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941 – 1945, S. 252 ff. und Ebba D. Drolshagen Nicht ungeschoren davonkommen. Das Schicksal der Frauen in den besetzten Ländern, die Wehrmachtssoldaten liebten.]
Dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Themenbereich gibt, legt ein Artikel / eine Buchbesprechung zu Jack El-Hai: The Lobotomist von Dr. Roland D. Gerste nahe (aufgerufen am 26.08.19).
Die Lobotomie gilt heute als obsolet, für ihre (vermeintlichen) Indikationen werden Psychopharmaka oder stereotaktische Operationen wie die Thalatomie eingesetzt. In Deutschland war das Verfahren nie wirklich etabliert, sehr im Gegensatz zu den liberalen Demokratien des europäischen Nordens wie Schweden oder Norwegen, wo es noch bis in die Fünfziger Jahre verschiedentlich zwangsweise an dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat unerwünschten Randgruppen wie Homosexuellen oder – in Norwegen – Frauen angewandt wurde, die mit deutschen Besatzungssoldaten Affären, vielleicht gar Kinder, gehabt hatten.
(aus: Frontale Lobotomie, eine Methode, die das Leben vieler Patienten zerstört hat, Ärztezeitung 01.08.2005)
Dass sich ein Verfahren, dessen Wirksamkeit nie vollständig nachgewiesen wurde, in Deutschland nicht etablieren konnte, ist angesichts der Verbrechen der Nationalsozialisten auch an Psychiatriepatientinnen und -patienten keine Rede wert und für die Abgrenzung zu den skandinavischen Ländern untauglich.
Und dennoch stellt Knut Ødegårds Gedicht, so wie ich es gelesen habe, die Frage, die unangenehme, die schmerzliche: Waren wir denn besser? Warum haben wir solche Verbrechen zugelassen?
Das legt die weiter oben zitierte Parallelkonstruktion von Shoah und Lars‘ Abholung nahe. Und:
Der Krieg tobte sich in Europa aus, einem nahezu
judenfreien Europa, Millionen in der Luft,
Staub, Staub. Die Felder Russlands mit
verwesten Soldaten gedüngt, Steckrüben
mit Blut gewässert. Klinisch reine
Gedanken vom Frieden, das neue Europa
tanzte zur Swingmusik […]
[…]
doch Lars hörte nur leise Stimmen
in seinem Kopf drinnen, ungefährlich jetzt,
nicht so deutlich, und er starrte zu den
Vögeln hinauf mit einem leisen Lächeln,
mit leeren Augen. In die Luft
hinaus.
[…]
[…] Lars starb,
während er zu den Vögeln hinaufstarrte. […]