Eun Hee-Kyung: „Wer glücklich ist, schaut nicht auf die Uhr“

Wieso weinst du?

Nach der Erzählung sagte Hye-Rin noch: „Für mich sehen alle Gäste gleich aus. Sie scheinen nur am Leben zu sein, wenn sie traurig sind.“
„Wir sind wir selbst, wenn wir Traurigkeit empfinden. Deswegen wollen alle dorthin, wo es traurig ist“, erwiderte ich.
„Ja, weil man am Leben sein möchte“, ergänzte Hye-Rin.
(aus: In My Life)

Die Koreanerin Eun Hee-Kyung, 1959 im Südwesten Koreas geboren, mit ihrer Familie im Alter von 13 Jahren nach Seoul gezogen, ist in ihrem Land eine bekannte literarische Größe. Ihr Werk wurde bereits mehrfach ins Deutsche übersetzt. Nun ist sie mit einer neuen Publikation auf dem deutschsprachigen Markt angekommen. Es handelt sich bei Wer glücklich ist, schaut nicht auf die Uhr um sieben Erzählungen, die von Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer ins Deutsche übertragen wurden. Das Übersetzerduo zeichnete schon für Das Schöne verschmäht mich (und andere Erzählungen) aus dem Jahr 2012 verantwortlich.

Es sind traurige Erzählungen, die im Gegensatz zur heiteren Pastelligkeit der Covergestaltung, vielleicht einer von Kinderhand bemalten Rauhfasertapete, von Juana Burghardt stehen.

Es sind traurige Erzählungen, die wir lesen, kunstvoll komponiert, die ein genaues Lesen erfordern.  Sie entwickeln sich nicht linear, sondern bauen sich zyklisch auf und drehen sich um Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Mann und Frau, sind Bewegungen, die ihre Richtungen wechseln, ein Aufeinanderzubewegen, ein Sichabwenden. Das Magnetfeld, auf dem die Erzählungen stattfinden, ist das städtische-moderne Leben im Korea des 21. Jahrhunderts, in dem Anonymität und Einsamkeit als Preis für eine hochtechnologisierte Gesellschaft erscheinen.

Das Wichtigste ist, nicht zurückzuschauen.
(aus: Eine eindeutig unmoralische Liebe)

Die Protagonisten können dieser Aufforderung, gegenwärtig und zukunftsgläubig zu sein, nicht folgen, sondern wechseln oft die Blickrichtung und halten Rückschau auf ihr Leben, wie die Schriftstellerin in den mittleren Jahren, die eines Tages bemerkt, dass ihre Haare kreisrund ausfallen, dass sie an Alopecia Areata leidet.

„Echt? Dann hast du bald eine Glatze. Tja, das ist unpraktisch, weil es dann tock-tock-tock macht, wenn dir der Regen auf den Kopf fällt. Du kennst doch Herrn Park, oder? Der hat gesagt, dass das Geräusch von Regen, der auf ein Blechdach prasselt, ein Witz ist, verglichen mit dem, das der Regen auf seiner Glatze macht.“
(aus: Stunde der Poesie)

Es geht in Euns Prosa um gegenwärtige Verluste, die im Vergangenen wurzeln.

Damals wollte ich gerne für ihn, meine erste Liebe, die Frau sein, die ihn errettet. Da er nicht so etwas Unnötiges besaß, wie eine umherirrende oder verletzte Seele, hatte er auch keine poetische Rettung nötig. Die Frau, die er sich wünschte, die Frau, die ihn erretten sollte, war eine Frau, die etwas Praktisches besitzt.

Mit achtzehn Jahren war ich durch und durch mit Ernsthaftigkeit gerüstet, von daher konnte mich nicht einmal der Verlust der Liebe entwaffnen. Dafür hat mir der Mann, der meine erste Liebe war, jetzt, zwanzig Jahre später, in aller Deutlichkeit einen Korb gegeben.

Für jemanden, der in den letzten zwanzig Jahren die Jungfräulichkeit seiner ersten Liebe aufbewahrt und gerade verloren hat, bleibe ich unerwartet nüchtern.
(aus: Stunde der Poesie)

Nüchtern ist nicht der Grundzustand der Einsamen, die sich in Hye-Rins Café In My Life treffen.

Ich vertrug immer mehr Alkohol. Wenn ich betrunken war, wurde ich lebendig. Dann bekam ich das Gefühl, dass alles, was in meinem Körper wie das Leben eines anderen äußerst eingeengt Platz genommen hatte, verschwand und endlich mein eigenes Leben begann.

Ich, die ganz vorne stand und den Zankereien oder Schlägereien zuschaute, die sich ab und zu im Café zutrugen. Ich, die, wenn ein Mann und eine Frau zusammen ins Café kamen, die Art, wie sie sich gegenübersaßen, und ihre Körperhaltung, wer sich zu wem mehr hinüberneigte, heimlich beobachtete und den dynamischen Aufbau, wer Sklave und Herr war, analysierte. Ich, die zu zu der Melodie von Highway Star von Deep Purple mit Headbanging und „Ah-ah-ah“ schreiend  mitsang. Ich, die auf der schmutzigen Toilette, es wurde nicht zwischen Herren und Damen getrennt, kauerte und die Kritzeleien las, die mit „Mir war langweilig, deswegen bin ich zu einem Freund gegangen. Er war aber nicht zu Hause, nur seine ältere Schwester war da …“, begannen.
(aus: In My Life)

Irritation ist Eun ein wichtiges Element. Sie rüttelt gekonnt an gesellschaftlicher Konvention.

„Onkel“, ruft ihre kleine Tochter. „Warum schläfst du immer nur mit meiner Mutter? Wieso nicht mit mir?“

Das ist nicht die Stimme eines kleinen Mädchens. Das ist der Klang der Unschuld, welche seit dem Anbeginn von Himmel und Erde existiert. Ihre Stimme hat auch keine Klangfarbe oder sonst was. Ein bloßer Klang, der eine Bedeutung enthält und ihm diese jetzt übermittel will. „Männer schlafen mit Frauen, richtig? Und ich bin eine Frau.“

Im Liegen antwortet er ihr: „Du bist zu klein.“

„Ich verstehe nicht, was Kleinsein bedeutet. Bis zu jenem Alter ist man klein. Bis zu jener Größe und jenem Gewicht ist man klein. Kannst du mir das nicht mit Zahlen erklären? Erwachsene stellen doch solche Regeln auf, die für jeden gelten. Sie stellen sie auf und bestrafen jemanden, wenn er gegen sie verstößt. Oder die aufgestellten Regeln werden abgeändert und neu aufgestellt. Gibt es keine Abmachung, mit der man die Bedeutung von Kleinsein festgelegt hat?“
(aus: Das andere Ende der Welt)

Das Übersetzerduo leistet gute Arbeit, bringt das Gedanken- und Wortmaterial Euns gekonnt ins Deutsche. Das ist angesichts der Konstruktionen der Geschichten und der Tiefe der ausgebreiteten Reflexionen alles andere als selbstverständlich.

Ein Wort allerdings habe ich in der deutschen Fassung als falsch, als deplaziert empfunden.

Ich war vierzehn Jahre alt, als wir unser Hab und Gut auf einen Lastwagen luden, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unser Heimatdorf verließen […]
(aus: Stunde der Poesie)

Es ist zermürbend, immer wieder auf den Ursprung dieses Ausdrucks hinweisen zu müssen. Der Nacht-und-Nebel-Erlass war ein Führererlass vom Dezember 1941, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die Geschichte eingegangen ist. Und in der deutschen Sprache bis heute als fälschlich gebrauchter Ausdruck für überstürztes Handeln herhalten muss. Spannend wäre hier, das koreanische Original zu kennen. Ist dieser Ausdruck bis nach Asien gelangt?