Gespräch mit Leopold Federmair auf Faustkultur.
Schönheit und Schmerz
Annäherung an Leopold Federmair
Essay
Ich spüre die Unmöglichkeit, dieses Buch zu besprechen, ihm mein (wer bin ich?) Werturteil aufzudrücken. Es geht nicht um Daumen hoch oder runter, ich bin nicht in der Arena, weder Zuschauer, der brav sein Brot frisst, noch Herrscher, der sein Machtspiel treibt. Schönheit und Schmerz von Leopold Federmair macht etwas mit mir, darüber will ich schreibend sprechen.
Könnte ich dann nicht auch eine Rezension schreiben? Ist es nicht so, dass jedes Buch etwas mit der Leserin, dem Leser macht und dass sie alles Recht der Welt haben, diese Leseerfahrung zum Maßstab einer Kritik zu machen? Spielt es eine Rolle, was der Autor sagen will oder kommt es nur darauf an, was ankommt? Entsteht Literatur erst im Auditorium, mit der Leserschaft?
Um nicht nur Fragen zu stellen, gebe ich auf die letzte Frage ein Nein zu Protokoll. Literatur entsteht im Schreiben, unabhängig von der Anzahl und Bewertung der Leserinnen und Leser, daran glaube ich, muss ich glauben, sonst wäre ich kein Schreibend-Suchender.
Weshalb die Flucht ins Essay? Weil es mehr Raum zum Scheitern gibt oder weil ich unverfrorener über mich sprechen kann?
Noch weiß ich es nicht, habe jedoch die Vorahnung, dass sich ein Satz bilden wird, der da lautet:
ICH – SCHREIBE – GEGEN – DEN – TOD
Plötzlich schlägt Unbekümmertheit in Versehrtheit um, ein Unfall, eine Krankheit. Es trifft mich nicht allein. Es geschieht ständig, überall. Und schreiben wir, schreiben wir also immer gegen den Tod. Wollen ihm Leben abtrotzen oder zumindest den Zurückbleibenden ein Vermächtnis hinterlassen.
Schönheit
Der Schatten der Zweige und Blätter des Baums schreibt Formen – andere Zeichen – auf die Steinsäule, in die Schriftzeichen geritzt sind. Beharrlich, hin und her, schreibt der Schatten. Immer dieselbe Form, dasselbe Zeichen, und doch nicht dasselbe. Minimale Veränderungen, zeitweiliger Stillstand. Ein Rhythmus: Wiederholung, Abweichung, Pause. Welches ist die Bedeutung, die hier erzeugt wird? Worauf will das Wiegen hinaus?
(Leopold Federmair, aus: Form, Zeichen)
Der Schatten schreibt seine eigenen Geschichten. Sie können nicht ohne die Sonne entstehen, haben aber in ihr keinen Bestand, verbrennen am gleißenden Licht, an der Energie, an Wellen. Der Schatten gewährt manchmal Schutz und verteilt Nuancen: Halbschatten, Viertelschatten, Achtelschatten …,
Nuancen, an die wir uns jedoch gewöhnen müssen und deren weiche, fließende Übergänge uns zu täuschen vermögen.
Um die Wahrheit zu sagen, es gibt hier, vor meinen Füßen, erschreckende Schauspiele. Zwei schmale Würmer kriechen langsam über den Sandboden, sie werden an diesem Tag ihr Leben aushauchen (hauchen sie denn?) […]
(Leopold Federmair, aus: Widerlegung)
Das Sitzen in und das Beobachten der Natur ist Disziplin und Grundvoraussetzung, um Haiku zu schreiben, „reine Gegenwart“, wie Federmair notiert. Von manchen Kolleginnen und Kollegen höre ich, wir Europäer könnten keine Haiku schreiben. Haben wir die Kunst der Beobachtung verlernt?
und
Oder macht uns bereits die Gleichschaltung von Moren und Silben zu Kopisten des 5-7-5 Schemas? Ich denke, Haiku- oder Tankadichtung (5-7-5-7-7) braucht weniger eine nationale Identität als die Qualitätsmerkmale Unmittelbarkeit und Durchdringung. Doch:
Durchdringung, das braucht Zeit, oft Jahrzehnte.
(Leopold Federmair, aus: Goya und die Zeitfäden)
Atemzug und Lebenszeit zugleich sind also vonnöten. Da wundert es nicht, wenn Zweifel entstehen.
Haiku: daß ich nicht einmal bei den eigenen Hervorbringungen weiß, ob sie etwas taugen oder nicht. Selbst bei Basho Matsuo und den anderen Berühmtheiten weiß ich es nicht. Aber vielleicht ist das ja ganz egal. Vielleicht gehört diese Gleichgültigkeit zur Ausdrucksform. Wertungen Entscheidungen Urteile: aufgehoben durch die (un)scheinbare Schrift, die der wirklichen (Un)scheinbarkeit gerecht zu werden versucht.
(Leopold Federmair, aus: Wer weiß)
Die Natur und ihr Eindringen in den Stadtraum oder besser: Der Stadtraum und sein Eindringen in die Natur, das ist in ein wichtiges Thema, dem sich Federmair in kleinen Sätzen, Absätzen widmet. Er, der mit seiner Familie in Hiroshima lebt, ist ein genauer Beobachter der Zwischenräume, der offen gelassenen, verlassenen Stellen, den (Ab-)Bruchkanten, jenen Orten, wo sich Tradition mit Hypermoderne schneidet, sich in die Natur einschneidet. Ich sehe und spüre, schmecke, rieche diese Orte, wenngleich ich noch nie in Japan gewesen bin.
Schmerz
Auf dem Rückweg habe ich mich dann doch wieder nach einem Übergang, einem Paßweg, irgendeinem Durchlaß ins andere Tal umgesehen. Und einen ziemlich großen Stausee vorgefunden, außerdem einen Friedhof für Haustiere und eine lange, parallel zum dicht bewaldeten Bergkamm liegende Reihe von Gewächshäusern, etwa die Hälfte davon aufgegeben und verwildert. Ein Durchlaß, ein Übergang war nirgendwo zu erspähen. Der Tierfriedhof lag etwa hundert Höhenmeter über dem Sanatorium, durch eine wohlasphaltierte Straße an die Zivilisation angebunden, die angrenzende Macchia säuberlich ausrasiert, das Erdreich terrassiert, die Sockel der Grabmäler und die Wege dazwischen ordentlich betoniert. Hierher, an den schönsten Rand der Welt, dachte ich, verfrachtet man also die toten Hunde und lebenden Verrückten. Auf daß sie nicht gänzlich vergessen werden.
(Leopold Federmair: Schönheit und Schmerz)
Am letzten Sonntag im Oktober ist mein Cousin gestorben, der jüngste Sohn meiner Tante. 25 Jahre hat er die DDR erlebt, überlebt, weitere 30 Jahre vereintes Deutschland waren zu viel für seinen Körper und seine Seele. Ich weiß wenig über ihn, da war erst die Grenze, die Mauer zwischen uns, zwischen unseren Familien, dann hat sie, denke ich, nachgewirkt. Wir sind uns nie richtig begegnet. Mit 55 Jahren zu sterben, das ist zu früh, zu ungerecht. Wem will ich meine Empörung entgegenschleudern?
ICH – SCHREIBE – GEGEN – DEN – TOD
und
Jens war, wie mir meine Tante berichtet, ein scheuer Mensch geworden, der den Kontakt zu Menschen mied, wann immer es ging, und der gerne draußen unter freiem Himmel war. Eine Hütte im Wald, an die er eine Veranda anbaute. Sicher, um die Natur zu beobachten, das Schwinden des Lichts am Abend, die Einkehr der Stille zur Nacht …
Welch merkwürdige Doppelbelichtung! Ein Mann geht ins Badezimmer und kommt tot wieder raus. Vor 24 Jahren ist das meinen Vater passiert, jetzt meinem Cousin. Der eine war fast 55 Jahre alt, der andere gerade 55 Jahre geworden. Und warum nicht über meine diffusen Ängste sprechen? In wenigen Wochen werde ich 55 Jahre alt. Ja doch, ich will es besser machen!
Ein Freund ist gestern gestorben. Das erfahre ich aus dem Rechner, dem Benachrichtigungskasten. Nicht hier in meiner Nähe, sondern zehntausend Kilometer entfernt ist sein Leben zu Ende gegangen. Er war Schriftsteller, hinterläßt zwei Töchter, einige Bücher, zwei oder drei gute, immerhin, und es hieß früher, als noch von ihm gesprochen wurde, er sei ein Vitalist, ein … Lebenskünstler? Nein, eher ein Lebenskämpfer, denn ohne Kampf, ohne Kämpfe – in der Mehrzahl – konnte er nicht existieren. […] den Tod verdrängen, mich – den Lebenden – erinnern, mich von ihm, dem Toten, erinnern lassen, memento mori, ach wo, denk an den Tag, den deinen, jetzt, carpe diem, laß ihn glücken, wie ich mein Leben glücken ließ, lassen wollte, und dann in Wahrheit verpfuschte, vertat. Wir können uns nur vertun, höre ich die Stimme aus dem Jenseits, das ich mir, weiß Gott warum, als gemütlichen Ort denke.
(Leopold Federmair, aus: Wanderung)
Schönheit
Versatzstücke einer nicht geschriebenen Rezension, wie folgt: Die Prosastücke Federmairs sind kein Geschreibsel, keine ausgeleerte Zettelsammlung, deren Inhalt zu einer Komposition des Lebens arrangiert wurde. (Wer diesen Satz extrahiert, wird gemeuchelt!) Seine Divertimenti wollen vielmehr über mehrere Satzlängen Vergnügen bereiten – und sie tun es! (Wer diesen Satz extrahiert, wird ebenso gemeuchelt!) Hat Federmair sich den Begriff von Momo-Autor Michael Ende ausgeliehen, aus dessen Zettelkasten stibizt, darin Divertimento in PP? (Wer diese Frage stellt, wird füsiliert.)
Die Erschießung [Kommentar: Die Erschießung der Aufständischen] überschreitet als Kunstwerk die Zeit, sie zeigt die Soldaten als belanglose Mörder, als untergeordnete Graue Herren [Kommentar: „Graue Herren wie in Momo„, vgl. Federmair Ein Traum …], als Funktionäre, die das Leben beherrschen (und letztlich ausrotten) wollen, wo es sich nicht beherrschen läßt [Kommentar: Daumen nach unten]. Sie sind gefühllos, gesichtslos, zeichenlos. Für sie gibt es nur ein einziges Zeichen: Feuer!
(Leopold Federmair, aus: Goya und die Zeitfäden)
Das Gemälde von Francisco Goya hat mich bereits als Jugendlicher fasziniert, erschrocken und fasziniert. Dass der Titel in der spanische Sprache einen etwas andere Inhalt transportiert, ist mir neu. Wie wird aus El 3 de mayo en Madrid: Los fusilamientos de patriotas madrileños (wörtlich: Der 3. Mai in Madrid: Die Erschießung der madrilenischen Patrioten) der deutsche Titel Die Erschießung der Aufständischen?
und
Ähnlich verwundert zeigte ich mich vor einigen Wochen bei der Lektüre von Oficio de tinieblas (wörtlich: Messe der Finsternis) der mexikanischen Schriftstellerin Rosario Castellanos, in deutscher Sprache unter dem Titel Das dunkle Lächeln der Catalina Díaz. Sonderlich weit hergeholt ist der Vergleich nun nicht, nimmt man Untertitel Der magische Roman vom Aufstand in Chiapas hinzu. Sieht man von dem entscheidenden Detail ab, dass bei Goya die Spanier die Opfer sind, während deren mestizischen Nachkommen in Mexiko zu den skrupellosen Täter werden.
Erschrocken und fasziniert haben mich die Augen dessen, der in Goyas Bildkomposition mittig kniet, in der Erwartung seines unmittelbar bevorstehenden Todes. Ein letzter Moment, da das weiße Hemd voller Licht (und Hoffnung) ist, noch unbefleckt, noch nicht blutgetränkt. Während der Blick des zur Rechten ins Unbestimmte, in den nachtschwarzen Himmel geht, schaut der im weißen Hemd auf die Gruppe seiner Mörder. Er, das Individuum, sie, die Grauen Herren, seine Füsiliere. Meine Gedanken und Gefühle konnte ich vor Jahrzehnten noch nicht in Worte packen. Bildbeschreibungen waren mir als Schüler ein Graus. Ich erinnere mich jedoch, dass ich das Gemälde abzuzeichnen versuchte und, mag der Versuch geglückt gewesen sein oder nicht, ich mir seinen Inhalt so einschrieb. Worte kamen erst später.
Durchdringung, das braucht Zeit, oft Jahrzehnte.
(Leopold Federmair, aus: Goya und die Zeitfäden)
Schmerz
Ein Einschreiben, das von Unrecht, Ausbeutung und Mord losgeschickt wurde, an mich adressiert: Mach was draus! Ja, ich habe lange, bevor ich es wusste, diese Sendung angenommen, den Empfang mit meiner Unterschrift quittiert.
Ich kann nicht lange in der Sonne stehen, ich verbrenne dort. Ich suche den Halbschatten, den Viertelschatten, den Achtelschatten, …, seine Nuancen. Schwarzmalerei ist nicht mein Metier: die Hoffnung stirbt zuletzt!
ICH – SCHREIBE – GEGEN – DEN – TOD
Zwei große dunkle Schmetterlinge mit tiefgrünen Streifen an den Flügelrücken fliegen langsam, die Zeit auskostend, wipfelwärts, und der eine umkreist den anderen vertikal, in geringem Abstand, sehr schnell, ein schillerndes Rad, und der andere läßt es sich gefallen, fühlt sich umschmeichelt, verschönert durch die Gesellschaft des Tänzers. Rasendes Schweben, schönste Verehrung. Die Schnelligkeit des Tanzes betont die Ruhe des Seins in der gegenseitigen Nähe.
(Leopold Federmair, aus: Widerlegung)
Dann entwächst aus der gegenseitigen Nähe die nächste Generation, der die gesamte Fürsorge gilt. Meine Tochter klingelt. Sie kommt vom Tanzkurs heim. Kalt sei es draußen, sagt sie. Als hätte ich das nicht schon die ganze Zeit gespürt, in den letzten Stunden, in denen ich hier am Computer gesessen habe und mich in den Versuch flüchtete, sie (auch mich) durch Worte zu wärmen.
Meine Tochter ist jetzt zehn. […] In ihrem Leben gibt es bereits Verluste, Unwiederbringliches, und es gibt ein Bewußtsein dieser Verluste. Und einen Willen, daß das, was begonnen hat, weitergehen soll. Und ich, der ich viel, das meiste, fast alles verloren habe, bin trauriger, viel trauriger als sie, die ein glückliches Ende erleben wird, mehrere solcher Enden, Ausgänge, Neubestimmungen. Dafür will ich sorgen, oder wenigstens nicht im Weg sein, damit die Dinge ihren Lauf nehmen können.
(Leopold Federmair, aus: Öffnung. Versuch)
und
Warum nicht über das Glück sprechen, heute, jetzt für die Kinder ein Brot zu backen? Sie zu nähren!