Andreas Neeser: „Wie wir gehen“

Tektonik

Der neue Roman Wie wir gehen des Schweizer Schriftstellers Andreas Neeser ist die Bestandsaufnahme eines Lebens. Insofern könnte der Titel auch Wo wir stehen lauten, aber Mona hat sich entschlossen, auf ihren Vater Johannes zuzugehen, wenngleich das ein schwieriger Weg ist. Was verbindet Vater und Tochter, was trennt sie? Am Ende findet sie ein passendes Bild:

Anhand der Unterrichtsnotizen hat sie [Monas Tochter Noëlle, E. G.] mir von den Kontinenten erzählt, die sich unter der Erdoberfläche bewegen. Platten der Erdkruste, die auf dem Erdmantel aufliegen und darauf „herumspazieren“. […] Wir zwei Kontinentchen, du und dich, wir spazieren auf dem Mantel, der unseren gemeinsamen Kern umhüllt. Es zieht die beiden zugleich zueinander hin und voneinander weg. Ein ständiges schmerzhaftes Ziehen und Zerren auf dem Boden der Tatsachen.

Neeser leuchtet die Nicht-Beziehung von Vater und Tochter behutsam aus. Er zerrt sie nicht ans Tageslicht, sucht nicht wortreich, was ohnehin vorgeführt wird, sondern agiert wie ein Beleuchter im Theater, setzt klug in Szene. Manches bleibt im Dunkeln. Neeser überlässt es der Leserin, dem Leser, diese Lücken zu schließen und versetzt so sein Lesepublikum in die gleiche Lage, in der sich auch die beiden Hauptfiguren befinden: Leerstellen und Nullspannen, die auszufüllen sind.

Mona bittet ihren Vater, aus seinem Leben zu erzählen. Bislang kennt sie nur einige Bruchstücke, möchte nun aber mehr erfahren. Johannes kämpft wieder gegen erhöhte PSA-Werte, nachdem eine Behandlung der Prostata Jahre zuvor erfolgreich schien. Nun sind sie wieder da, die Tierchen, wie Mona die Krebszellen nennt.

Das von Mona mitgegebene Diktiergerät bespricht Johannes widerwillig. Aber er spricht. Sein Leben packt er in 47 Minuten Erinnerung. Mona trägt fortan diese Aufnahme mit sich rum, um sich das Leben ihres Vaters gewahr zu werden und um Fragen zu formulieren, die sie ebenfalls aufnimmt.

Wo keine direkte tiefer gehende Kommunikation möglich ist, sind diese kleinen Umwege eine Annäherung. Keine herzlich Umarmung, die Mona erst am 83. Geburtstag ihres Vaters gelingt, sondern ein Abtasten mit der roten Aufnahmetaste.

Mona steht mitten im Leben – und steckt in der Krise. Ihre Ehe mit Pierre ist gescheitert. Die Tochter sucht noch ihren neuen Platz, pendelt zwischen beiden, bis sie mit dem Vater brechen will. Kann sie das? Bleibt der Vater nicht immer der Vater? Neeser verfolgt diese Frage aus Monas Perspektive durch die Familienrückblicke auf die Eltern- und Großelterngeneration und in die Zukunft der noch nicht volljährigen Tochter. Sätze, ähnliche Wortzusammenstellungen, werden weitergegeben.

Der Satz, den sie eben gesagt hatte, klang nach als doppeltes Echo. Noëlle – er ist doch dein Vater. – Mona – er ist doch dein Großvater.

Ein Einbruch in das Goldschmiedeatelier Pierres ist Auslöser der Ehekrise. Pierre sieht in allen Asylsuchenden solche Verbrecher, kann nicht mehr unterscheiden zwischen Kriminellen und Ausländern, lässt seinem rechten Gedankengut freien Lauf und zieht die Tochter auf seine Seite. Mona, die als Übersetzerin arbeitet und zusätzlich ehrenamtlich für das Migrationsamt tätig ist, sieht den Einzelnen, kann differenzieren und wird dafür von Pierre (und Noëlle) als naiver Gutmensch denunziert. Ja gut, die Ehe geht auseinander, aber bleibt die Tochter nicht die Tochter, die Mutter Mutter? Da lässt sich kein Ex- dranheften! Man kann sich nicht lossagen.

Neeser verzahnt in Monas Gegenwart die Geschichte des Vaters und die des syrischen Flüchtlings Salim. Da greifen Beobachtungen ineinander und ergeben ein erweitertes Bild.

Nein, ich habe keine Ahnung vom Krieg, sagt Mona. Der Vater verliert drei Sätze über den Krieg. Auch Salim erzählt vom Krieg.

Dabei verschweigt er fast alles, weil es für den spitzen, lauten Schmerz keine Sprache gibt.

Wie eng Arbeit und Selbstwertgefühl verflochten sind, auch das zeigt Neeser durch die Figuren Johannes und Salim. Da der Vater, der als Verdingkind auf dem Hof des Onkels schuften muss, der von seinem Vater Gottlieb als Laufbursche in eine Firma geschickt wird, der schließlich doch noch ein Handwerk erlernt, bevor Krankheit ihn in seinen Lebensplänen zurückwirft, dort Salim, der syrische Christ, Künstler, dessen Werk vom IS zerstört wird, der flieht, zurückgeht aus Sorge um seine Eltern, erneut flieht, schließlich in die Schweiz gelangt und seine künstlerische Fähigkeiten nur dazu nutzt, um das zerstörte Werk wieder auferstehen zu lassen.

Die Bilder, die Salim präsentierte, waren handwerklich zweifellos brilliant, jedenfalls soweit sie das beurteilen konnte, doch inhaltlich fehlte ihnen die Aussage, die Dringlichkeit. Sie war überzeugt, er wusste es. Wie sehr musste das schmerzen , wann man um sein Leben malte und nicht hinterherkam. Denn wer die Vergangenheit einholen wollte, war immer zu spät. Und immer falsch am falschen Ort. Nie war man zu Hause, nie kannte man sich aus. Am wenigsten in sich selbst.

Der Roman erzählt in konkreten Bildern und behandelt zugleich Metathemen, ohne dass die Handlungsstränge dadurch überfordert, überlastet werden. Wo ist ein Mensch zuhause, wo findet er seine Heimat? Ist es die Familie, das Land? Johannes fühlt sich angekommen, als er fern der Familie auf einer Baustelle in der Bergen arbeitet. Salim hingegen zieht es trotz Lebensgefahr immer wieder vom Libanon aus zu den in Syrien gebliebenen Eltern.

Er schien noch nicht bereit zu sein, sich mit dem Schrecken zu konfrontieren, weil er immer noch auf der Flucht war, nicht angekommen in dem Land, von dem er sich wünschte, es werde ihm eine geliehene Heimat.

Kann man eine Heimat leihen? Das ist eine Frage, über die es sich nachzudenken lohnt. Wenn es einem Menschen möglich ist, gleich aus welchen Gründen, eine neue Heimat anzunehmen, wie könnte er verpflichtet werden oder sich verpflichtet fühlen, das Leihgut nach einer Zeitspanne wieder zurückzugeben?

Das Ende ist offen, wie Neesers Roman überhaupt viel Luft bietet, eigene Gedanken weiterzuspinnen, die eigene Vater-Tochter, Vater-Sohn-Beziehung parallel zu denken und nach Übereinstimmungen zu suchen.

Es hat keinen Sinn, jetzt das Gespräch zu beginnen, das wir ein halbes Leben lang nicht geführt haben. Aber ich hoffe, es wird uns beiden helfen, wenn ich von mir zu dir rede, und mit mir selbst. Denn ich werde es so lange tun, bis du mir geworden bist, was du zu lange nicht warst.

Das kann ich für mich unterschreiben, und rufe meinen toten Vater hinterher: „Du auch, Paps?“