Otaheiti
Die Südsee-Insel Tahiti wurde von deutschen Dichtern Ende des 18. Jahrhunderts / Anfang des 19. Jahrhunderts als Asyl erträumt. Dafür verantwortlich war Johann Georg Adam Forster, der an der zweiten Weltumseglung James Cooks von 1772 bis 1775 teilnahm und als erster Vertreter einer wissenschaftlichen Reiseliteratur in Deutschland gilt. Exotik und revolutionärer Freiheitsdrang waren wohl entscheidende Motive derer, die über Emigration nachdachten, um die Verkrustung des politischen Systems in den deutschen Staaten abzuschütteln.
Forster, der dem Mainzer Jakobinerclub angehört hatte, starb 1794 in Paris.
1802 reiste Friedrich Hölderlin, Quellen zufolge zum größten Teil zu Fuß, durch Frankreich, sein Ziel: Bordeaux. Mehrere gescheiterte Anläufe, eine gesicherte Existenz durch eine längerfristige Anstellung als Hofmeister, Hauslehrer aufzubauen, hinter sich, beabsichtigte er zu emigrieren. Er schrieb:
Ich bin jetzt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe.
Hölderlins Herzensnot war vier Jahre nach der Trennung von Susette Gontard, seiner Diotima, immer noch eine klaffende Wunde.
Dieser Bordeauxreise Hölderlins spüren die deutschen Dichter José F. A. Oliver und Mikael Vogel in einem Wechselspiel aus insgesamt 20 Gedichten nach, ergänzt um ein verzweifeltes Lied, gemeint ist das Gedicht Hälfte des Lebens.
Es erschien 1804, zwischen Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux, seiner Remigration im Sommer 1802 und der Zwangseinweisung in das von Johann Hermann Heinrich Ferdinand Autenrieth geleitete Universtitätsklinikum Tübingen am 11. September 1806.
Es dürfte zu den Gedichten gehören, die zu den Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Hölderlins am häufigsten in Erinnerung gerufen werden, ob seiner Kürze, seiner Prägnanz, seiner Zweiteilung. Es ist auch im Hölderlinturm Tübingen präsent, wo die Premiere des Buches am 19.03.20 mit einer Lesung von Oliver und Vogel gefeiert werden sollte (Absage wegen Corona).
Deren Annäherung an Hölderlin nähere ich mich vorsichtig tastend, unsicher. Kann ich Halt in ihren Worten finden? Kann ich durch sie Hölderlin nahe kommen? Oder schicken mich die beiden Lyriker ins Ungewisse?
Die mangelhafte Quellenlage zu Hölderlins Reise nach Bordeaux, wenige erhaltene Briefe, Passeinträge bieten die Möglichkeit, die Freiheit!, sich die Lücken anzueignen und auszufüllen mit Inhalten, die über eine Seelenverwandschaft mit Hölderlin Auskunft geben, aber eben auch das Thema Flucht und Migration aus der Sicht des 21. Jahrhunderts thematisieren.
Mikael Vogel bleibt in seinen Gedichten vermeintlich näher an der Wirklichkeit des Bordeaux-Reisenden, versieht die Texte mit Ort und Datum, wie sie Hölderlin genutzt hat: Lyon. d. 9Jenn. 1802. oder etwa Bordeaux. am Charfreitag. 1802. Er verbindet Zitate mit seiner Version, was auf der Reise passiert sein mag, was Hölderlins Gedanken waren, was seine Sehnsucht, was sein Leid. Die Gedichte zeichnen annähernd eine Chronologie vom Beginn der Reise bis zu seinem Ende. Im letzten Text greift Vogel dann die 231 Tage auf, die Hölderlin in Behandlung, in „Behandlung“ von Autenrieth verbringen musste.
Am 11. September kam Hölderlin in die Klapse.
Ihre Abwesenheit sehr präsent
Seine eigene auch
Opium zu Beruhigung, das
Irreperable Nervenschäden verursachende Reizgift und Aphrodisiakum Cantharidin aufputschend
Belladonna, Quecksilberfütterungen, gegen-
Rhythmische Unterbrechungen
›Zu jeder vollständigen Heilung‹, so sein Psychiater
Der gegen schreiende Patienten die ›Autenriethsche Gesichtsmaske‹ erfunden hatte
(Hölderlin nutzte wahrscheinlich eine ganz ab, erhielt mit der ›Elektrisiermachine‹ Elektroschocks)
›Scheint mir immer ein Brechen des Willens des Kranken zu gehören‹
[…]
(aus: Hölderlin im Zombie Escape Room)
Behandlung, „Behandlung“ verweist dabei auf die Frage, wie mit Krankheiten der Psyche umgegangen wurde. Einerseits war es nicht nur ein Wegsperren, sondern der Versuch einer Behandlung. Nicht nur aus heutiger Sicht erscheint jedoch der Ehrgeiz der Ärzte fragwürdig, was die angewandten Methoden angeht.
(Vergleiche hierzu die Rezension über Knut Ødegårds Die Zeit ist gekommen und den darin enthaltenen Text Leukotomie.)
José F. A. Oliver ist im alemannischen Dialekt ebenso zuhause wie in der deutschen Sprache und seiner lengua materna Spanisch. 1960 kamen seine Eltern aus Málaga nach Deutschland, er wurde 1961 in Hausach geboren.
Oliver arbeitet mit seinen Gedichten zu Hölderlin eher auf einer Metaebene, die Migration und Abwehr der Migration, Xenophobie, Rassismus behandelt. Er seziert die deutsche Sprache.
camisas pardas, die braun-
hemdensprecher*innen & lustmesser, im
klingenscharfen / w:ort
& massaker
beschwörend / der tag
hat nicht genug stunden
den hinter-
halt zu deuten. Es
entblößt sich
das eingemachte
zwischen un- :1 augenroh
schuldshänden & hassbotschaften. […]
Das kann man als tagespolitischen Kommentar lesen. Wer ist in Besitz von Herkunft, wer in Besitz von Heimat? Wer vereinnahmt Deutungshoheit? Wer lässt dies zu?
Heimath ist für Oliver ein fremdw:ort. Und darin spiegelt sich Hölderlins Schicksal eines Einsamen, eines Verlassenen, eines Kranken. Es gelingt ihm nicht, sich das Fremde anzueignen, denn das Eigene fremdelt:
Aber sie können mich nicht brauchen.
oder
Schämen sich denn die Menschen meiner so ganz?
Oliver thematisiert Verlust, Sprachverlust am Beispiel des Vaters:
verlog er sich die arbeitshände
unterm fremden schnee. Er sagte
es ist kalt die lügen kälter & jahre später
verlor er auch die sprache
ans gemachte eis der migration
[…]
(aus: schwarzmilan)
Aus den Fragen Wo bleiben wir? und Wohin gehen wir? wird bei Oliver wohin bleiben wir? als Synthese des Eigenen und des Fremden.
Beide Lyriker arbeiten nicht mit Antworten, ihre Annäherung an Hölderlin wirft eher Fragen auf, die Raum in Anspruch nimmt, auf
[…] dass
den dichter*innen ein TURM
ZIMMER sein müsste wider alle schmäh-
gewalt, dass
worte w:orte sind & w:erden / wir aber frei-
gänger im hoffnungsdoch & erstaunen &
bleiben […]
(aus: hier, mayday, mayday, mad day)
Das Hoffnungsdoch, die Utopie, sie verbindet die Dichter des 18. /19. Jahrhunderts mit denen des 21. Jahrhunderts. Ob bleiben oder (aus-)wandern, es wird sich weisen müssen.