Larry Tremblay: „Der feiste Christus“

Das Haus

Ich möchte widersprechen. Schon der erste Halbsatz des Klappentextes erscheint mir falsch, irrig. Der Protagonist, die zentrale Gestalt ist nicht Edgar, sondern das Haus.

Ein Blick auf die Kapitelüberschriften dieses an Umfang recht schmalen Romans des Kanadiers Larry Tremblay (Jahrgang 1954) weist in die gleiche Richtung: Es sind nicht die Menschen, die die Handlung bestimmen. Wie das? Hier stimmt etwas nicht. Oh, ja!

Das Ding – Das Tier – Die Badewanne – Das Telefon – Das kleine Tier – Das Kleid – Der Kaffee – Das Vaterunser – Der Krankenwagen  – Der Eiffelturm – Das Sonderangebot – Das Präservativ – Das Auge – Die Bibel – Der Film – Der Lagerraum – Der Bart – Das Heft – Der Friedhof – Die Kerze – Der Fleck – Die Pastete – Das zweite Heft – Die Müllsäcke – Das Foto – Der Kuchen – Der Pfeil – Die Inspektoren – Der Kühlschrank – Die Perücke – Der Gefreite – Das Kästchen – Die Hunde – Die Kette

Dies ist eine so stringente Kette, dass die Ausnahmen (Die Inspektoren und Der Gefreite) [Sonderstellung der Tiere, juristisch zwischen Ding und Mensch] mir fast als handwerkliche Mängel erscheinen. Hat hier einer sich nicht bewusst gemacht, was er tut? Agiert er impulsiv aus dem Unterbewusstsein heraus, ohne auf Fehler zu achten und sie zu korrigieren?

Und schon sind wir mitten im Roman bei den Bewohnern und der ehemaligen Bewohnerin des Hauses: Da ist Edgar Trudel, da ist (oder war oder ist immer noch?) Anne-Marie Trudel, geb. Létourneau, Edgars Mutter, die auf den Friedhof gezogen ist, da ist Jean (vielleicht auch Jesus oder Alex Lévis). Weiteren Besuchern, die die Schwelle des Hauses übertreten, wird es nicht allzu gut ergehen, sie finden sich im Keller verscharrt wieder: Josiane Gravel und Madame Lévis.

Bevor hier auf Spurensuche gegangen wird – sagen wir Spurensicherung, denn zweifelslos hat das Haus Verbrechen begangen, die verfolgt werden müssen (bitte unbedingt gleich die Tatortreiniger informieren! Der durchdringende Geruch von verwesendem Fleisch, Blut, Eiter, Urin, Scheiße und Erbrochenem ist mit einfacher Durchlüftung und ein paar haushaltsüblichen Putzmitteln nicht wegzubekommen, das sollte Edgar, dem Eigentümer des Hauses, klar sein) – muss ich auch dem Titel widersprechen.

Le christ obèse |  Der feiste Christus (ins Deutsche übersetzt von Michael von Killisch-Horn) reiht sich ein in die Ausnahmen der Kapitelüberschriften, die nahelegen, Personen seien Handlungsträger. Es wird zu untersuchen sein, ob dem Autor glaubwürdig gelingt, den Titel seines Romans einzulösen oder ob es im Grunde um etwas anderes als Katholizismus und Erlösung geht.  Das Fixieren eines geschundenen Körpers mittels vier Krawatten (und später Ketten) auf einem Bett mag an eine Kreuzigung erinnern, aber ist das schon ausreichend Beleg dafür, Jean als Erlöserfigur durchgehen zu lassen?

Die Kapitel sind sehr kurz gefasst, es sind vielmehr Abschnitte oder genauer: Einschnitte, Schnitte, die sich Edgar in früheren Jahren zufügt hat, als er sich ritzte. Die Narben, die zurückgeblieben sind, betrachtet er nun von Neuem.

Das Haus steht zweistöckig und mit Lehmboden im Keller am Rande einer kanadischen Stadt. Vor dem Haus eine Auffahrt und eine große Eiche. Nachbarn wohnen entfernt, es gibt sie, ja, aber die Häuser halten sich auf Abstand.

Das Haus mit seinen Räumen ist ein Körper, eine fleischliche Hülle. Es ist eine Luftröhre, in der ein Präservativ steckt.  Es ist ein Verdauungsorgan, das seinen Inhalt erbricht, um das Erbrochene wiederzukäuen und erneut zu verdauen. Es ist ein Enddarm, dessen Schließmuskel mit roher Gewalt perforiert wird und aus dem die Scheiße unaufhörlich rinnt.

Das in Dunkelheit getauchte Zimmer schloss mich ein in sein Geheimnis, verdaute mich in seinem Bauch.

Als Edgar auf dem Friedhof am Grab seiner Mutter erwacht, wird er Zeuge eines brutalen Angriffs auf eine Frau in unmittelbarer Nähe. Vier Männer malträtieren ihr Opfer. Als sie von ihm ablassen, wagt sich Edgar aus seiner Deckung und sammelt das auf, was von dem Menschen übrig geblieben ist. Er bringt den nahezu leblosen Körper zu sich ins Haus. Er ruft keine Hilfe, er will sich um diese Frau kümmern.

Später wird er entdecken, dass es sich um einen Mann handelt, er wird seine Identität herausfinden und etwas über die näheren Umstände der Misshandlung, die eine fast vollendete Hinrichtung ist, erfahren. Das sind Stellen, die eine vorwärtsgerichtete Handlung generieren und dann natürlich doch die Personen als Träger der Handlung zulassen. Hier kippt das Buch Richtung Psychokrimi. Das liest sich spannend und schließlich will man die Auflösung wissen. Man bekommt sie nicht serviert.

Aber innerhalb der ersten Schnitte bleiben die Szenen statisch, unbewegt, wie die Dinge, die das Haus befüllen. Räume, die entstehen, sind Erinnerungsräume, die das Verhältnis von Edgar und seiner Mama oder anders herum von Anne-Marie Trudel und einem Muttersöhnchen, das Mitte, Ende dreißig ist, beleuchten.

Was auch immer zwischen Mutter und Sohn (und dem am Tag der Geburt des Sohnes durch einen Autounfall gestorbenen Vater) sich an ödipal anmutenden Komplexen, krankhaften Neigungen, Obsessionen und Mordphantasien entwickelt hat, das Haus ist Hüter dieser Geheimnisse und lässt nicht zu, dass etwas nach außen dringt. Die Abfolge der Schnitte, die Tremblay als Autor setzt,  ist ein Kammerspiel. Vielleicht eine gekonnte Schablone für ein Escape-Spiel. Nur, dass es wirklich keinen Ausgang, keinen Ausweg gibt.

Das ist routiniert geschrieben. Tremblay füttert uns mit Happen, die wir erst nicht wollen, vor denen wir uns ekeln, sie dann doch annehmen, schlucken, um an ihnen fettleibig werden. Wir sind die Feisten!

Hier könnte diese Rezension enden. Wenn wir unsere Rolle annehmen. Dieses Buch, denke ich, darf aber nicht durchkonsumiert werden.

Die Figur des Erlösers Jesus Christus als Sohn von Maria und Josef und als Sohn Gottes ist für mich als Angehöriger der christlicher Religion ein spannendes.

Ich darf vorausschicken, dass ich keine vertiefte Kenntnisse christlicher Motive habe, mich aber ein Aspekt der Kreuzigung bewegt. Es ist das Verhältnis von Vater und Sohn.

Der Anruf des Sohnes, sein Flehen um Gnade, seine Schicksalsergebenheit:

1.
JEsus:
Mein Vater, schau, wie ich mich quäle!
Erbarme Dich ob meiner Not!
Mein Herze bricht, und meine Sele
Betrübet sich bis in den Tod.

Mich drückt der Sünden Centner-Last:
Mich ängstiget des Abgrunds Schrecken;
Mich will ein schlammigter Morast,
Der Grund-los ist, bedecken.
Mir preßt der Höllen wilde Gluht
Aus Bein und Adern Mark und Blut:
Und weil ich noch zu allen Plagen
Muß Deinen Grimm, o Vater, tragen,
Vor welchem alle Marter leicht;
So ist kein Schmerz, der meinem gleich’t.

2.
Ist’s möglich, daß Dein Zorn sich stille;
So laß den Kelch vorüber geh’n!
Doch müsse, Vater, nicht mein Wille,
Dein Wille nur allein, geschehn.

aus: Barthold Heinrich Brockes:
Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus (1712)

Ich denke, Tremblay spielt mit einer Reihe von christlichen Motiven, die er mutmaßlich besser einzuordnen weiß, als ich es kann. Dass es ein Spiel ist, dafür liefert der Autor den Beleg mit einem dem Roman vorangestellten Zitat von Cioran:

Die Lust zu beten hat nichts mit Glauben zu tun.

Aus dem psychopathische Beziehungsgeflecht der Familie Trudel ergeben sich für mich keine Erlösermotive, wie sie dann in der Beziehung von Edgar und Jean behauptet werden. Dazu hätte der Versuch der Mutter, ihr Kind zu töten, eine Opferung aus Liebe sein müssen. Oder aber ich stellte mir Gott als hassenden Mann vor, schlimmer noch: als hassende Frau. Besser nicht!

Dabei hatte meine Mutter ihren abscheulichen Versuch wiederholt und meinen Kopf dabei jedes Mal länger unter Wasser gedrückt, als würde sie üben. Sie habe ihren Mann so sehr geliebt, schrieb sie, dass sie einem Sohn nichts mehr zu geben habe.

Das ist krank. Nicht mehr und nicht weniger. Ich denke an Georg Büchner:

Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.

Ich habe ehrlicherweise den Sinn der Kreuzigung Jesus noch nicht vollumfänglich erfasst. Die Opferung des Sohnes erscheint mir kein gutes Fundament für eine Religion. Mit diesen Zweifeln kann und muss ich leben. Ob das ausreichend ist, ein guter Christ zu sein, wer darf ein Urteil ermessen?

Aber Krankheit und Kälte als Gründe für dieses Opfer anzunehmen, soweit möchte ich nicht gehen, selbst wenn ich die Macht hätte, Gott anzuklagen.

So bleibt es bei einem zwiespältigen Spiel, das für mich nicht aufgeht.

Tremblay lässt Edgar sagen:

Ich hatte mir diese ganze Geschichte ausgedacht, um nicht zu sehen, was ich getan habe.