„Die Pension“ des 1973 geborenen polnisch-jüdischen Autors Piotr Paziński ist ein Meisterwerk (Übersetzung: Benjamin Voelkel). Ein schmaler Roman mit wenig Handlung, aber ein Meisterwerk. Nicht mehr, nicht weniger.
Die Exposition, der erste Satz des Romans, ist von schier nicht verkraftbarer Tragweite.
„Im Anfang waren die Gleise.“
Die göttliche Schöpfung, die alles Sein aus dem Dunkel ins Licht führt, wird in Haftung genommen für die Ausrottung der Juden in Europa, die Shoa. Am Ende steht das Dunkel der Gaskammern. Die Schöpfung wird umgekehrt, sie wird zum Akt der Vernichtung.
Die Überlebenden werden die ihnen verbleibende Zeit mit der Frage ausfüllen, wieso sie überlebt haben, ihre Familien jedoch vernichtet wurden. Was geschieht mit diesen Fragen, wenn sie an die Enkelgeneration übertragen werden? Ausgesprochen oder verschwiegen, das ist gleich, die Fragen stehen im Raum.
Piotr Paziński lässt seinen Ich-Erzähler im 21. Jahrhundert von Warschau aus aufbrechen und wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt zu einer Pension reisen, die versteckt im Wald, nahe der Weichselland-Bahnlinie liegt. Hier hat er in den Siebziger Jahren als Kind mit der Großmutter und vielen anderen jüdischen Mitbewohnern die Sommerferien verbracht. Er findet die Pension im Zustand des Verfalls und der greifbaren Erinnerung. Zeitebenen verwischen und die Vergangenheit wird Gegenwart.
Das Kind liebt die Gesprächigkeit der Erwachsenen, die ihre Geheimnisse gleichzeitig mitteilen und doch bewahren. Das Kind liebt das Zählen der Güterwaggons, so wie alle Kinder es lieben und „damals dachte ich nicht, dass ich gut verriegelte Viehwaggons nicht mag„.
Im Beitrag über Noémi Kiss habe ich die Frage aufgeworfen: „Aber lässt sich lang zurückliegende Anwesenheit in der Abwesenheit visualisieren?“
Nun, Piotr Paziński schafft es mit leichter Hand, ohne dass ich sagen kann, wie er es macht. Vielleicht muss man im Besitz der Geschichte sein.
Das Buch wurde zur Leipziger Buchmesse 2015 vorgestellt und ist in der edition fotoTAPETA Berlin erschienen.