Beate Laudenberg, José F. A. Oliver, Ulrike Wörner (Hg.): „kinderleicht & lesejung. Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur“

Blick für eine Zukunft

Die vorliegende Publikation, die die Vorlesungen der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur des Hausacher LeseLenzes und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe von 2014 bis 2019 versammelt, ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) informieren und sich inspirieren lassen wollen.

Was zeichnet gute Kinder- und Jugendliteratur aus? Wie gelingt sie? Welche Beschränkungen herrschen für Autorinnen und Autoren? Wie erreichen sie ihr Publikum?

Die fünf Dozent*innen Thorsten Nesch, Franco Supino, Nils Mohl, Kathrin Schrocke und Julia Willmann werfen Fragen auf und geben individuelle Antworten, bezogen auf ihr Schreiben. Dabei formulieren sie teilweise erstmals eine Poetik, ihre Lehre von der Dichtkunst, eine Disziplin, die mir größten Respekt abnötigt.

Dass ein Text klüger als seine Urheberin, sein Verfasser ist, das ist ein alter Hut, eine gern zitiertes Bonmot. Ich habe es mir mal mit Worten von Adam Zagajewski in mein Notizbuch eingetragen:

Ich muss sagen, dass ich keinen dummen Lyriker spielen möchte, aber ich verstehe meine Gedichte nicht ganz. Das ist das Süße und das Wunderbare an der Lyrik: dass wir nicht ganz verstehen, was wir herstellen.

Zweifellos ist diese Aussage ebenso für den Bereich der Prosa  und auch für Kinder- und Jugendliteratur zutreffend. Insofern hinken die Autor*innen immer ihren Texten hinterher. Diesen Vorsprung des Textes zum Gegenstand einer Reflektion über das eigene Tun zu machen, ist nicht etwa eine Nabelschau, sondern Analyse der eigenen Arbeit in einem vielfältigen Umfeld (Autor*in – Verlag – Lesepublikum), die unter wechselnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfindet.

In Deutschland gibt es neben Karlsruhe aktuell nur eine weitere Poetik- Professur für Kinder- und Jugendliteratur an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Wenn man bedenkt, wie groß der Markt in diesem Segment ist, erscheint die Reflektion unumgänglich und doch wenig ausgeprägt. Umso wichtiger sind Publikationen wie diese, die Ergebnisse auch außerhalb der Universitäten zugänglich zu machen.

Ich möchte beispielhaft einige Aussagen der Dozenten von 2014 und 2015 Thorsten Nesch und Franco Supino vorstellen und dann aufzeigen, inwiefern mich ihre Poetik-Vorlesungen neugierig gemacht haben auf die Lektüre ihrer Bücher, die sie in ihrer Poetik in den Vordergrund stellen.

Gute Geschichten können nicht „für den Markt“ geschrieben werden. Ihnen fehlt das Herzblut […] Wollte ich „für den Markt“ schreiben, wäre ich Werbetexter geworden.

Bei der Qualität von Kinder- und Jugendliteratur geht es mir um die Glaubwürdigkeit, den Ton und die Authenzität […] Ist sie gut, begeistert sie auch Erwachsene.

Apropos Unterhaltung … unterhalten sollten gute Romane, gute Geschichten. Nicht nur mit Humor, auch mit Spannung, mit jedem zur Verfügung stehenden Element. Es darf aber nicht niveaulos sein. Traurigerweise ist die deutschsprachige Unterhaltung in U- (Unterhaltungsliteratur) und E-Literatur (ernsthafte Literatur) ein bibliophiler Steilpass in die Bedeutungslosigkeit.

Was ich auch noch von einem Roman erwarte: Dass er den Vertrag, den er mit mir als Leser auf den ersten Seiten abschließt, auf seiner ganzen Länge erfüllt.
(Thorsten Nesch)

Die Herausforderung des Schreibens ist also, dass nicht der Autor die Geschichte macht, sondern der Leser.

Warum man nie sagen kann, was der Autor sagen will (auch er selbst nicht), liegt, wie wir gesehen haben, daran, dass das, was die Geschichte ausmacht, nicht gesagt werden kann: Es steht zwischen den Zeilen.

Wer schreibt hofft, dass der Leser liest, was nicht dasteht. Was ein unüberwindbares Dilemma scheint, gelingt bei jedem Stück geglückter Literatur – und also doch recht häufig.

Wer liest, schreibt sich seinen Roman selber.

Für mich ist entscheidend: Ich habe den Text geschrieben, den ich schreiben wollte, und ich gehe keine Kompromisse ein, nur weil es sich dann besser verkauft. So kohärent zu sich sollte jeder Autor sein […]
(Franco Supino)

Übereinstimmend betonen beide Autoren die Unabhängigkeit guter Literatur vom Markt und dessen Arbeitsbedingungen, die er Autorinnen und Autoren auferlegt. Hierzu untersucht eine Dozentin in ihrer Vorlesung Tabus, Selbstzensur und Zensur in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Kernsatz:

Nichtsdestotrotz behaupten die meisten Kinder- und Jugendbuchautor/innen der BRD, dass in ihrer tagtäglichen künstlerischen Arbeit Tabus durchaus ein Problem darstellen und Zensur auf oft subtile Weise ausgeübt wird.
(Kathrin Schrocke)

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Thorsten Nesch: „Die Kreuzfahrt mit der Asche meines verdammten Vaters“

Der Vertrag, den ich mit Thorsten Nesch als Leser geschlossen habe, hat sich bereits durch den Titel ergeben. Es ist in diesem Fall unerheblich, ob der Titel vom Autor stammt oder ein Produkt der Werbeabteilung ist: es ist der natürliche und damit für mich einzig gültige Titel des Buches. Der Titel ist der Grund, das Buch zu lesen. Es ist ein verdammt guter Titel.

Ich bin neidisch auf diesen Titel. Neidisch nicht im Sinne, dass ich unfähig wäre, gute Titel für meine Arbeiten zu finden. Das kann ich. Soviel Selbstbewusstsein besitze ich, dies zu sagen. Nein, ganz konkret bin ich eifersüchtig auf diesen Titel, der eine mir unbekannte Geschichte des Autors Nesch bereits vorwegnimmt, die ich zwar noch nicht gelesen habe, aber längst selbst geschrieben habe: mit meiner Trauer um, meiner Wut auf meinen Vater.

Vor 25 Jahren wäre es richtig gewesen, die Asche meines Vaters dort zu begraben, wo er gestorben ist, auf einer sonnigen Insel, weit weg von seiner Heimat und seiner vertrackten Familiengeschichte. Jetzt ist es zu spät.

Aber dieser Typ, Jörn, der hat die Möglichkeit, die Asche seines Vaters an einen letzten Platz zu bringen. Und ja, klar ist, die Verdammnis des Vaters ist nicht aufrechtzuhalten. Es wird zu einer Annäherung kommen, einer späten Aussöhnung.

Ja, das will ich lesen, um meinen Verlusten gewahr zu werden, meiner Trauer Platz zu geben … und ja … der Vertrag zwischen Nesch und mir hat bis zum Schluss gehalten. (Es gibt dabei natürlich ein starkes Ungleichgewicht zwischen dem Schreiben und dem Lesen, das eine hat vielleicht Jahre gedauert, das andere zwei Tage. Aber die Momente des Glücks und der Trauer sind zeitlos, gültig und absolut erfüllend.)

Ich habe getrauert, geweint, um Rocco, Jörns Vater und um meinen. Ich habe die Leichtigkeit, die Süße der ersten Liebe wiederentdeckt, hab mich reingeschossen in mein 17. oder 18. Lebensjahr. Ich wusste gar nicht mehr, dass es sie einmal gegeben hatte. Ja, so sprechen die Hundertjährigen, die über fünfzig sind.

Ja, ich kann mich wieder einkriegen: alles halb so schlimm! Zum Glück gelingt es sowohl in einen Roman ein- als auch wieder aus ihm aufzutauchen.

Bin gespannt, ob meine jugendlichen Kinder das Buch lesen.

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Franco Supino: „Wasserstadt“

Bei Franco Supino ist es nicht der Titel, der mich dazu bewogen hat, das Buch zu bestellen und (demnächst, die Verlagsbestellung ist noch unterwegs) zu lesen. In seiner Vorlesung Für Kinder und Jugendliche schreiben gewährt Supino einen Einblick in seine Stoffsammlung, die zur Entstehung des Buches beigetragen hat.

Ein Areal am Rande von Solothurn, der Stadtmist, eine ehemalige Abfalldeponie, soll bebaut werden. Ein Investor verspricht ein Win-Win-Situation. Eine günstigere Altlastensanierung plus eine attraktive Neubebauung des Gebietes.

Es fallen die Namen der Architekten des Projektes. Diese hatten schon zu meiner Zeit als Architekturstudent 1989 bis 1996 eine Strahlkraft: Herzog & de Meuron. Superstars der Szene, wie wir sie damals neugierig und im unbedingten Willen, so auch später bauen zu wollen, verfolgt haben in den Hochglanzfachmagazinen wie Bauwelt, Arch+ oder Detail.

Gerade habe ich mir das Video zum Projekt angesehen, es weiß zu faszinieren, noch heute, vierundzwanzig Jahre nach meinem Diplom und der Erkenntnis, dass ich kein Architekt geworden bin, dass ich nicht dazu getaugt hätte.

Ich erinnere mich, wie wir bei einer studentischen Exkursion nach Kopenhagen am freien Nachmittag in einer kleinen Gruppe die Freistadt Christiania besuchten und ich diesen Ort mit der Erkenntnis verließ: Um lebenswerte Räume zu schaffen, braucht es keine Architekten! Das Bunt-Chaotische zog mich an.

So war ich also hin- und hergerissen zwischen Hochglanz, den glatten Materialien Beton und Glas und der Improvisation ungehobelter Bretter, die Wildwüchse von Erweiterungsbauten, kleinen Nischen entstehen ließen.

Genau diesen Gegensatz baut Supino in seinen Figuren Markus und Bart auf. Mit Markus derjenigen, der sich mit der Wasserstadt planerisch verwirklichen will, mit Bart den Aussteiger, der Konsumverzicht und Rückzug lebt. In der Endfassung sind aber die Väter in den Hintergrund gerückt. Stattdessen treten die Töchter der beiden Ani und Züsi plus der brasilianische Junge Elson als Hauptpersonen in den Vordergrund.

Wie spiegelt sich die Wertevorstellung der Väter in der nachkommenden Generation?

Ich weiß – im Gegensatz zur Lektüre von Neschs Roman – nicht, was mich erwartet, habe noch kein eigenes Skript, das vor der Lektüre vor meinen Augen entstanden ist. Meine Erwartung, also auch wieder die Frage des Vertrags zwischen Autor und Leser, ist, dass der Autor die Positionen der Väter durchspielt, dass er nachweist, wie reizvoll beide Lebensentwürfe sind und wie sich die junge Generation vom Vorgegebenen befreit und eigene Wege findet, die Welt in ihrer Komplexität und Diversität zu denken und zu leben.

Bei Wasserstadt visualisiert eine recht schlichte Coverzeichnung, das Dreieck der drei Jugendlichen: im Wasser, am Wasser, an Land.

Wenn es eine Kongruenz zwischen Covergestaltung und Buchinhalt gibt, und dies sollte bei guter Kinder- und Jugendliteratur im Zusammenspiel von Autor und Verlag der Fall sein, erwarte ich weniger einen Strudel, wie ihn Thorsten Nesch genutzt hat, um mich in seine Geschichte hineinzuziehen, sondern eine ruhig-präzise Ausgestaltung der Protagonisten und der Szenerie ohne sprachliche Effekthascherei, wie sie an sehr wenigen Stellen der Figur Jörn und dem Autor Nesch im Überschwang der Fabulierkunst (ihr Parfüm so beißend wie eine Senfgaswolke) unterläuft.

[Lektürepause.]

Ja, auch dieses Buch ist eine beglückende Lektüre, viel mehr will ich hier gar nicht sagen. Lesen, einfach lesen, es steht so viel zwischen den Zeilen!

Nur drei Aspekte. Ich war überrascht:

1.) über das Ausmaß der Gewalt (Naturgewalt, physische Gewalt, sexualisierte Gewalt)

[Mit dem Posten von Nacktbildern geht Supino auf ein Thema ein, dass für Jugendliche viral ist und durchaus kräftig an den von Kathrin Schrocke genannten Tabus und Selbstzensur/Zensur kratzt. Sie schreibt:
Es ist vermutlich vor allem vor dem Hintergrund diverser Missbrauchsfälle zu interpretieren, dass zahlreiche Kolleg/innen mitteilten, dass es aktuell nahezu unmöglich sei, im Kinder- bzw. Jugendbuch Kinder allein mit älteren Männern zu zeigen, wenn diese nicht die Väter oder Großväter sind.

Gentleman7 hat eindeutig keine hehren Absichten, und es gut, meiner Meinung, dass das Thema benannt wird.]

2.) wie sehr die Elternperspektive in den Hintergrund rückt und also das Gegensatzpaar Architektur – Nichtarchitektur nicht eine so bedeutende Rolle spielt

[Man könnte sagen, dass hier meine Erwartungen enttäuscht wurden, aber ich hatte ja geschrieben, dass ich kein eigenes Skript hatte vor der Lektüre, freilich aber meinen biographischen Hintergrund.]

3.) die Väter sich fraternisieren, also trotz allem für ihre Kinder (sichtbar und spürbar) da sind und situationsweise gemeinsam agieren.

[Und das ist wieder das Schöne, das gemeinsame Agieren für die Kinder trotz der unterschiedlichen Lebensentwürfe, die die Väter leben (oder vorgeben zu leben). Als Vater einfach da sein ist schon viel. Neschs Figur Jörn hätte sich nichts sehnlicher gewünscht.]

Bin gespannt, ob meine jugendlichen Kinder das Buch lesen.