Ioana Nicolaie: „Der Norden“

Ioana Nicolaie: Der Norden

zum Lachen musst du die Asche ausfegen,
lass leuchtend die Lauge übers Leinen gleiten

(aus: „Krümel“)

Die 1974 geborene Rumänin Ioana Nicolaie hat mit „Der Norden“ („Nordul“) ihren zweiten Lyrikband im Jahr 2002 vorgelegt, der von Eva Ruth Wemme ins Deutsche übersetzt und von Traian Pop 2008 verlegt wurde.

Der Gedichtband ist den Eltern und Geschwistern der Autorin gewidmet. Zweifelsfrei führt uns die Autorin in ihre Familiengeschichte. Sie sucht und findet überzeugende poetische Bilder für die Erinnerungen, die sie nicht abstreifen kann, die bearbeitet werden wollen, die den Weg des geschriebenen Wortes gehen müssen, so wie das ungeborene Kind seinen Weg aus dem Bauch der Mutter nehmen muss, schmerzhaft ahnend, dass dieser voller Entbehrungen sein wird.

keiner hat mich damals geliebt!
wie soll man so ein Ding lieben
das einem heimlich im Bauch wächst,
ihn von innen poliert,
ihn zerreißt im Schmerz gestreiften Lichts?

(aus: „Weil sie wusste“)

Noémi Kiss schreibt in ihrem Buch „Schäbiges Schmuckkästchen“: „Auf dem Weg nach Czernowitz gelangen wir bald an den Rand der Dinge.“ In der Buchbesprechung habe ich gefragt, wie dieser poetische Satz mit Inhalten zu füllen ist.

Hier kann Ioana Nicolaie mit ihren Erinnerungsbildern behilflich sein. Sie sind von höherer Auflösung als die bei Google Maps eingestellten Fotografien, die mir den Ort Sângeorz-Băi, etwa 50 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt, in Sekundenschnelle aus der Vogelperspektive zeigen: ein Tal, ein Fluss, bewaldetes Mittelgebirge ringsum. Besser kann ich den Rand der Dinge mit den Worten der Autorin füllen:

denn ich war nur ein Stadtrand,
ich stieg aufwärts, entlang an den Wänden
aus Almanachen,
vorbei an den Veranden auf dem Friedhof,
vorbei an den paar Nachbarn,
die sich in die Farbe der Schaffelle duckten,

denn ich war nur ein Rand,
ein Lagerraum, in der das Stroh hineinpasste
und der Sand,
und die fauligen Früchte aus dem Keller…

denn ich hatte ein paar Brüder, Eltern und Großeltern

und der Regen jätete die rote Erde,
grub dazu in jedem Frühling Gräben,
unter meinen Fingern waren Skulpturen
aus Fröschen und Heuschrecken…

denn wir hatten keine Gäste
und der eingezogene Bauch der Stadt
sonnte sich unten im Tal
mit den Fabriken und den Hundtagen
da unten…

(aus: „Fernen“)