Jan Koneffke: „Die Tsantsa-Memoiren“

Tato (alias … ) als Chronist

In dem neuen Roman von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) überblickt ein personaler Erzähler die Zeit von ca. 1780 bis in die Jetztzeit. Wie das? Ist er unsterblich? Oder wird hier versucht, eine auktoriale Erzählweise (eine gottgemäße Perspektive) in eine Person hineinzumogeln?

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn sie berührt unmittelbar den Kern dessen, was dieser Roman thematisiert.

Koneffke schummelt nicht. Er stellt uns keine auktorialen Erzähler zur Verfügung, sondern einen personalen. Aber handelt es sich beim Erzähler um eine Person? Und wenn, wie kann sie über einen so langen Zeitabschnitt aus eigener Erfahrung, eigener Anschauen berichten?

Nicht alle werden den Titel des Romans auf Anhieb verstehen, denn das Wort Tsantsa kommt aus der kleinen JívaroSprachfamilie, die in Peru und Ecuador gesprochen wird, und bezeichnet Schrumpfköpfe (oder Englisch: shrunken heads). Koneffkes Erzähler ist also bereits gestorben,  ist ein nach den Regeln indigener Völker präpariertes Ding (?) aus menschlichen Überresten.

[Nichts stachelt die Phantasie weißer Europäer mehr an als die Grausamkeit der Kopfjäger und der Menschenfresser. Ein Schaudern geht durch die Jahrhunderte, eine Erregung, eine Sensationslust, ein Überlegenheitsgefühl gegenüber diesen Primitiven.]

Es gibt mehrere Besonderheiten dieses Tsantsas: Er ist europäischen Ursprungs, heißt: der Körper vom Fuss bis zum Hals, der den Kopf einstmals getragen hatte, stammte aus Augsburg, geboren als Simon Dryander. Und der Tsansta kann sprechen (und also uns seine Geschichte erzählen).

Das ist ein tollkühner Griff in die Trickkiste, der über die gesamte Länge des Romans (560 Seiten) funktioniert. Der Schrumpfkopf, er wird von seinen Besitzerinnen und Besitzern verschiedene Name bekommen, führt uns durch die Epochen – Vormärz und Frankfurter Paulskirche, k. u. k. Monarchie, 1. und 2. Weltkrieg, Nachkriegsdeutschland, Wende bis 30 Jahre Wende.  Nur die Notizen des Psychiaters Dr. Abraham und die Tagebucheinträge der am Ende über 100jährigen Betty ergänzen die Geschehnisse.

Tato, nennen wir den Tsansta mal mit dem Namen, den Betty ausgewählt hat, ist ja nicht gerade eine schöne Erscheinung. Deswegen und auch aus anderen Gründen muss Tato Jahre, Jahrzehnte in muffigen Keller eingesperrt in Kisten verbringen oder am Grund eines Flusses, bis er zufällig wieder aus dem Wasser gefischt wird.

Genug zu erzählen hat Tato, auch wenn es immer wieder diese Lücken gibt. Aber in den glücklichen Momenten, in denen er sich mit seinen Besitzern austauschen kann, wird er zunehmend vom Ding zum Mensch, nicht nur durch die Sprache, auch durch Sinneswahrnehmungen, Gefühle, sexuellem Verlangen.

Beim Streit, ob wir Dinge seien oder Personen, konnte Audley, mit pfeifenden Lungen um Atem ringend, sich niemals enthalten vor Howard und Hughes zu versichern: „Es sind meine Kinder!“ Das wird mir erst heute klar, muß ich bekennen, beim Diktat meiner Lebenserinnerungen in Grinzing, warum ich es an dieser Stelle vermerke: Sir Audleys Verbindung zu uns war ein menschliches Du und Du, das bei den Anthropologen und in der Museumsverwaltung von Cambridge keinen Wert besaß.

Wer sich auf das Magische eines hirnlosen, doch sprechenden Erzählers einlassen kann und also Lust hat, sich von einem Schrumpfkopf durch die Geschichte und von Caracas kommend durch europäische Metropolen führen zu lassen, dem sei dieser Roman wärmstens empfohlen. Dem Leser, der Leserin mag es dabei wie dem Erzähler selbst ergehen. Es gibt angefüllte Tage, die reich sind, es gibt langatmige Momente des Wartens. Und immer die Frage: Was kommt als nächstes? Wie geht es weiter? Manchmal ein Parforceritt durch die Geschichte, manchmal grauer Alltag und Ödnis: ganz wie das Leben!

Vielleicht ist der vierte Teil des Romans (1945 bis 2020) etwas zu kurz geraten. Im Stasi-Keller bis zur Wende eingelagert …, vielleicht war meine Erwartung, mehr über die Gegenwart der beiden deutschen Staaten aus dem Mund des Tsanstas zu erfahren, zu hoch.

Koneffkes Roman ist ein Lesevergnügen. Aber weit darüber hinaus finde ich faszinierend, wie er ein Thema aufnimmt, das mit dem Erscheinen des Romans hochaktuell ist. Man denke an die Repatriierung der beiden Toi moko (mumifizierte und tätowierte Māori-Köpfe) von Berlin nach Neuseeland im Oktober 2020. Wie also Schriftsteller ihre Themen finden und mit Belletristik einen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs abliefern: Rassismus, Rückgabe kolonialer Raubgüter, Entfernung menschlicher Überreste aus Ausstellungen.

Tato soll versteigert werden.  Der Journalist Prinz will die Auktion verhindern, streitet mit dem Inhaber des Auktionshauses.

„Verzeihen Sie! Ein Schrumpfkopf, der lebt, ist ein Mensch!“ – „Ein Mensch?“ sagte Imhof und spielte mit dem Schal, „Sie meinen wohl ein Objekt von historischen und kulturellem Wert.“ – „Nein, er ist ein Mensch, und in unserer Zeit sind Menschen kein Eigentum anderer Menschen!“

Hier wiederholt sich die Kernfrage des Romans und hinterfragt, was wir in den Jahrhunderten dazugelernt haben, ob.

Eine etwas andere Fragestellung ergibt sich beim Umgang mit Gipsmasken, wie ich sie im Sommer diesen Jahres im Rjiksmuseum Amsterdam gesehen habe. Und doch die Frage: Ist die Maske nur ein Ding oder ein Abdruck eines Menschen? Und wem gehören die Masken?

Facial masks, racial masks?
42 questions to Rijksmuseum Amsterdam

Why do you decide to show Facial mask of Hono-Hono and 41 Other Nias Islanders at your museum?

Is this a piece of art?

Is Johannes Pieter Kleiweg de Zwaan an artist?

Is he or his offspring the owner of the copyright?

Why?

Who was Hono-Hono?

Was he baptised by Dutch or German missionaries?

Did he understand Dutch?

Or did someone translate Dutch into Nias language?

Who were the other men?

Are also masks of women included?

Did the people take part voluntarily?

Did Kleiweg de Zwaan pay for their participation?

Or is this object at your museum the result of an enforced participation?

What are the practical circumstances of the origin of these masks?

How long did the people stay in horizontal position?

Were theirs hands fixed?

What happened to Hono-Hono and the others after their participation?

Are they buried on Nias?

Do they have descendants?

Are you in contact with them?

Do they know that masks of their forefathers are on display at Rijksmuseum?

Are the masks items made of plaster? Or images, imprints of a certain personality, identity?

What is your position in the discussion worldwide of giving back art work to countries of their origin?

Again: Do we talk about art?

Could these plaster masks be displayed in tropical environment?

What climate conditions are mandatory to preserve these masks for future generations?

Can these conditions be realised in a museum in Indonesia?

Is it possible to extend the information provided on the left of the masks?

Do you think ethnic characteristics is a proper translation for raciale kenmerken?

Do yo think your wording After 1907 this Indonesian island was forced under Dutch colonial rule through military violence is strong enough to transport the cruelty against indigenous people?

Or is this sentence still part of colonial history writing and a tool of opression?

How is the discussion in Dutch society regarding colonial past and responsibility?

Did you receive other feedbacks regarding this object?

Is it ethically correct to say object?

Or would it be better to talk about subjects?

Is there an internal discussion in your team whether to show the masks or not?

Is this well documented and available online?

Are there public monuments of Johannes Pieter Kleiweg de Zwaan in the Netherlands?

Are there currently anti-racist protests against such monuments representing the colonial past of the Netherlands?

Eventually: Is it allowed for a German citizen to ask such questions?