John Glenday: „The Firth“

Meeresarm

Es mag an der Fließrichtung des Wassers liegen, denke ich, ob es sich an jenen Stellen, wo sich Süßwasser mit Salzwasser vermischt, um einen Meeresarm oder eine Flussmündung handelt.

Nutze ich Meeresarm eher, wenn die Flut ins Land greift, das Süßwasser Richtung Quelle drängt, und bin ich bereit, von Flussmündung zu sprechen, wenn die Ebbe Untiefen im Mündungsbereich offen legt, also die Arbeit des Flusses, seinen Sedimenttransport belegt?

Im Englischen wird für beide Begriffe das Wort estuary verwendet. In schottischen Wörterbücher findet sich:

FIRTH, n.1 Also firt (Ork.), furth. An arm of the sea, often constituted by the broad estuary of a river
[https://dsl.ac.uk/entry/snd/firth_n1]

Ich war erst einmal für wenige Tage in Schottland, mit meiner Familie zu Besuch bei Freunden, die in der Nähe von Edinburgh lebten, nur wenige Minuten von der Forth Rail Bridge entfernt. Im Mai 2009 gab es einen sonnigen Tag, den wir, ganz Touristen, für einen Ausflug nach Inchcolm, einer kleinen Insel mit ehemaliger Abtei im Firth of Forth nutzten.

Vielleicht habe ich damals den Wortteil Aber- (für Flussmündung) vom nicht weit entfernten Aberdeen mit nach Hause gebracht, ohne mir dessen bewusst zu sein. Jedenfalls entstand in der Folgezeit mein Gedichtzyklus Flussmündungen, dessen erster Teil (von zehn) den Namen des schottischen Flusses Dee trägt.

Mag es legitim sein, seine lyrischen Gedankenwelt auf unbekannte Orte zu projizieren, so präziser sind doch die Zeilen eines Menschen, der dort aufgewachsen ist und heute noch lebt.

John Glenday, schottischer Lyriker, lebt mit seiner Familie in Carnoustie. Der Firth of Tay, ein kleiner Bruder des Firth of Forth, liegt nur knapp 60 Kilometer (Luftlinie) nördlich von Inchcolm.

Mit seinem Gedichtbändchen The Firth, 2020 bei Mariscat Press erschienen, legt Glenday eine Untersuchung der Plätze seiner Kindheit vor. Das Titelbild gibt mit seinem historischen Kartenausschnitt die Orte (in der Umgebung von Monifieth und Carnoustie) vor: Buddon Ness, ein Strand, ein Sandhügel, die Sandbänke bei Ebbe und das Meer. Hier begegnet er der Natur und Menschen, solchen, die sein Leben geprägt haben, längst gegangen sind und ihn und sein Schreiben doch ständig begleiten.

Es sind Orte hoher Intensität, nicht weil sie leuchten, vor Schönheit glänzen. Vielmehr, weil ihre Existenz sichtbar ist, von Glenday im allumfassenden Grau sichtbar gemacht wird, und der Dichter sie aus der Schäbigkeit der Umgebung, des Gezeitensaums mit angeschwemmtem Plastikmüll und Tang, herausragen lässt.

Ein Beispiel:

small blue
cupido minimus – for Zoe

i don’t want much:
just bring me an acre or so of world,

sweet flutes of kidney vetch
among the meadow grass, and the breath

of the sea; the breath of the sea and
an acre or so of world, that’s quite enough;

and finally, if it’s not too much
to ask, grant me sufficient light

to fill the gap between the foreshore
and the nearest star.

Der Zwerg-Bläuling, der kleinsten Tagfalter Mitteleuropas, ist trotz seines Namens nicht mit blauen Flügel ausgestattet, sondern mit grauen, grau-braunen. Nur die Unterseiten der Männchens weisen eine leichte Blaufärbung auf.

Zur eingangs aufgeworfenen Frage, welche Fließrichtung des Wassers das Vokabular vorgibt – Meeresarm oder Flussmündung: Glenday beobachtet in the bar eine einzelne Nordsee-Welle, die ihren Weg flussaufwärts sucht, sich an den Untiefen auftürmt, schäumt, schließlich in sich zusammenfällt und dahin zurückkehrt, wo sie hergekommen ist – ins Offene.