skömm | scham
Im Band smáa letrið | das kleingedruckte der isländischen Lyrikerin Linda Vilhjálmsdóttir (*1958 in Reykjavík) geht es schamlos und schamvoll zu.
Der Gedichtzyklus erschien 2018 in Island und wurde nun, als zweite Übersetzung der Autorin nach frelsi | freiheit (2018), vom Übersetzerduo Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer ins Deutsche übertragen und im Elif Verlag zweisprachig veröffentlicht. Es handelt sich bei der unten zitierten Eröffnung des Gedichts um eine Auftragsarbeit, die von der Schauspielerin Sigrún Edda Björnsdóttir am 17. Juni 2018 vor dem Parlamentsgebäude zum Nationalfeiertag in der Tracht der Bergfrau (fjallkonan) vorgetragen wurde. Die weiteren Teile sind davon unabhängig entstanden. Der Verkaufserfolg des Buches wurde sicher durch die öffentliche Präsentation sehr gesteigert.
In seiner Besprechung zu Amanda Gormans The Hill We Climb | Den Hügel hinauf schreibt Rezensent Arno Widmann in Bezug auf ihre Auftragsarbeit zur Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021:
Dichtung hat gerne den Herrschenden ihr Lied gesungen. Nur ganz selten mal den Marsch geblasen.
(aus: Frankfurter Rundschau vom 31.03.21)
Mit Blick auf Vilhjálmsdóttirs Text kann festgestellt werden: In Island wurde 2018 der Marsch geblasen, und wie!
Der höflich-zurückhaltende Applaus an Ende des Videos kann, auch wenn keine entglittenen Gesichter erkennbar sind, kaum das Entsetzen der männlichen Honorationen verdecken, während die Frauen die geballten Fäuste in den Manteltaschen vorgezogen haben dürften.
Dabei ist der provokative Einstieg des Gedichtes nur eine von mehreren Tonlagen, die Vilhjálmsdóttir im Weiteren nutzt, um das Verhältnis von Männer und Frauen zu belichten.
Ich gebe hier die deutsche Fassung des im Video gesprochenen Textteils wieder:
statt
uns auf den sockel zu stellen
rufen wir alle
bergfrauen des landes zusammen
ho!
jetzt strömen wir mal mehr mal weniger liebenswürdig
hinunter auf den platz
viele
mit schweren schneeklumpen am bauch
die ersten
mit einer eiskrone
einer erbsünde gleich auf dem kopf
und der beißende rauch vom feuer
ragt wie eine säule vom scheitel auf
der nasskalte jutesack ist
mit einer gestohlenen schnur um die taille geschnürt
und der ungeweihte erdige weg
ringelt sich wie eine schlange ums bein
die nächsten
mit einer hutmelone auf dem kopf
lockenwickler im haar
und feuerrotem lippenstift
im beigen kostüm
oder hautengen kleid aus vorhangstoff
und die nackten beine sind vom knie an
abwärts mit schuhcreme bemalt
als letzte
kommen die schlampen
dick geschminkt
in allzu weit geöffneten blusen
zu engen
und zu kurzen röcken
auf zu hohen absätzen
und besoffen obendrein
und wenn wir uns jeden zentimeter gras
des platzes zu eigen gemacht haben
treten wir vor
alle bergfrauen des landes
souverän und unabhängig
Nach diesem Auftakt, dieser Kampfansage, ist das Gedicht in vier Teilen fortgeschrieben.
Im dritten Teil werden die Männer am eingang von walhall mit ätzender Flüssigkeit übergossen. Die von den Übersetzern sparsam gegebenen Anmerkungen klären auf, dass es sich um den Ruheort der ehrenvoll Gefallenen in der nordischen Mythologie handelt, aber auch den Sitz der 1929 gegründeten Unabhängigkeitspartei, deren liberal-konservative Politik das Land nach Ansicht vieler Isländer*innen in die Finanzkrise 2008 geführt und beinahe an die Wand gefahren hat.
im anschluss an eine leichte mahlzeit und ein glas wein
werden die herren dann ölglänzend schön gemacht
und in ein gewand gehüllt
bevor sie ihre positionen einnehmen
in der prozession ein jeder auf seinem sockel
der von den sponsoren der partei in die höhe gehoben wird
dann ziehen sie los
unterm geläut der glocken von ihrer einkehr ins walhall
mit kurzen aufenthalten bei den höchsten institutionen der republik
So sehr ich die Schärfe der Provokation, vielmehr ist es eine unzensierte Darstellung der (untergeordneten) Rolle der Frauen in der (isländischen) Gesellschaft, schätze, wende ich mich eher dem Kleingedruckten zu, dem, was Scham verdeckt.
Die Scham, von der Vilhjálmsdóttir spricht, ist allumfassend. Es ist die Scham, gesellschaftlichen Konventionen nicht zu genügen.
ich hätte dieses kind gebären können
das ich nie bekam
mindestens monatlich
in den Jahren zwischen zwanzig und fünfunddreißig
Es ist die Scham, ein Trauma nicht überwinden zu können.
zugleich die gewissheit dass es
fünf jahre alt
normal gewesen wäre zu eis zu erstarren
als meine schwester
drei jahre alt
gerade im schwimmbad ertrank
Es ist die Scham, sich selbst zu sein. Facetten dieses Selbst sind im zweiten Teil des Gedichts aufgelistet. Er beginnt mit manchmal fühle ich mich wie und endet mit der gefährlichen Gewissheit
manchmal
wie ein vergewaltiger auf bewährung
immer
wie ein unfolgsames mädchen auf dem heimweg im dunkeln
Im letzten Teil wendet sich ihren weiblichen Vorfahren zu.
im geiste sehe ich meine mutter
deren mutter und großmütter
sehe sie sich aufraffen
von strohbetten oder schlafgestellen
hervorkriechen mit krummem rücken
aus den löchern die man hütten nannte
Hier wird die Sprache leise, fast ein Wispern im Wind, ein intimer Dialog mit den Vorfahren, ein Stück Familiengeschichte wird aufgearbeitet und daraus Kraft gezogen.
seit ich mich versöhnt habe mit dem bild von mir
so wie ich wirklich bin
wünschte du hättest dich sehen können
mama
wie ich dich jetzt sehe
im milderen licht des selbstvertrauens