Asmus Trautsch: „Caird“

1 – Im moralischen Eismeer

Der Band Caird, Gedichte von Asmus Trautsch, Illustrationen von Rebecca Michaelis, war bereits für Frühjahr 2016 angekündigt. Ging man beim Verlagshaus Berlin zunächst von einer Verschiebung um wenige Monate aus, hieß es später, der Band werde auf unbestimmte Zeit verschoben, möglicherweise erscheine er erst 2018.

Nun ist Caird erschienen und ich kann meine Zusage, diesen Band zu besprechen, einlösen. Doch eine Rezension für Fixpoetry wird es nicht sein, wie bekannt, hat Julietta Fix den Betrieb ihrer Plattform zu Beginn des Jahres 2021 eingestellt. Insofern bin ich an kein Wort mehr gebunden und habe die Freiheit, mich in unbezahlter Arbeit so ausführlich oder so kurz, wie ich möchte, zu diesem Band zu äußern.

Was unterscheidet Caird des Jahres 2016 von Caird des Jahres 2021? Das kann letztlich nur der Autor selbst wissen und die wenigen Leute, die das Skript in seiner Fassung von vor fünf Jahren kannten.

Bemerkenswert ist jedoch, dass der Titel die Ruhe- bzw. Weiterarbeitungsphase des Skriptes überstanden hat, wenngleich das gleichnamige Kapitel aus wenigen (=vier) Gedichten besteht und offensichtlich neuere Gedichte in weiteren Kapiteln aufgenommen wurden.  Doch das Kapitel Caird ist der Nucleolus des Bandes geblieben.

Hier zeichnet Trautsch die Expedition des britischen Polarforschers Ernest Shackletons in der Endurance (1914 – 1917) nach, die gefährliche Rettungsfahrt von Elephant Island nach Südgeorgien im Beiboot James Caird, die zu den überragenden seemännischen Leistungen des 20. Jahrhunderts zählt. Trautsch legt die Bombentrichter des 1. Weltkrieges parallel zu den erdrückenden Eismassen des Weddell-Meeres.

Der imperiale Männlichkeitsritt, die Antarktis
zu überqueren, gebremst im Januar 1915
durch packendes Eis. Es presst auf die Endurance.

Mitte Februar hackt die Crew die Schonerbank frei.
Kein Durchbruch. In der Champagne härtet Trommel-
feuer den Riss im Kontinent. Koloniale Mächte gestellt.
(aus: Ausdauer)

Im dritten Gedicht heißt es

In Europa wird Rettung
durch Fahnen ersetzt. Sorgedrift.

(aus: Sorge)

Trautsch nimmt diesen Satz als Scharnier, als Verbindungsstück zur Gegenwart, wenn er schreibt

Das Mittelmeer ist eine Flüssigkeit, in der Leichen treiben, schwellen, sinken.
3320, 4054, 5143, 3139, 2299, 1885, 1417 von 2014 bis 2020.
(aus: Langzeitverhalten)

Caird 2021 unterscheidet sich um mehr als 13000 Leichen von Caird 2016! Alles andere als eine geglückte Rettungsaktion. Und doch (oder gerade deswegen?)

Partys im Schengenraum
(aus: Langzeitverhalten)

 

2 – Eine Art Kneipe

Das erste Kapitel Maß für wildes Abheben versammelt Gedichte, die neueren Datums sind. Sie sind unter Pandemie-Bedingungen entstanden.

Sich fremd werden, keine Münder mehr sehen
keine Umarmungen, festlos tanzen allein.
(aus: Dialektik 20)

Du kamst von einer Fledermaus
ins Tageslicht der Städte
als Ironie des Habitats
flogst Boeing und in Atemluft.
(aus: Sars-CoV-2 in mir)

Diesem Gedicht ist eine Zitat von Heiner Müller vorangestellt, in der er Viren als herrschende Lebewesen annimmt und uns Menschen als Material für deren Verbreitung. Eine Art Kneipe für die Viren. Das Vokabular hat sich im Vergleich zu 2016 verändert. Wer hätte bei Müllers Satz vor fünf Jahren an das Wort Superspreader-Event gedacht und an Ischgl?

Doch Trautschs Sorge gilt dem Gesamtsystem Erde, unserem Planeten, in einem Zeitalter, in der der Mensch zur treibenden und zerstörenden Kraft wird: dem Anthropozän. In Trautsch Academia-Profil findet sich der Satz

I’m a philosopher who is most interested in the interplay of sciences, humanities and the arts in human self-understanding in the Anthropocene.

Artensterben, Klimakatastrophen, das Ende der Apokalypsen …

Die Sonne wird weiter strahlen, die Sterne, während die Wälder
verbrennen, die Stürme rasen
(aus: Apokalypsenenden)

Trautsch blickt abgeklärt pessimistisch in die Zukunft. Er nutzt das Präteritum, wenn es um unsere Möglichkeiten geht | ging.

jede sekunde bestand aus 5 chancen
zur intervention. wir lernten
zu können. konnten lang.
(aus: Holozän)

Auf der Coverrückseite klingt das Zitat etwas milder, denn dort steht es im Präsens. Auch wenn das die irrige Hoffnung erlaubt, es mag doch noch nicht zu spät sein: hier wird Trautsch falsch wiedergegeben.

jede sekunde besteht aus 5 chancen
zur intervention.

 

3 – Semitische Zeichen

Kaf ist der 11. Buchstabe semitischer Konsonantenschriften (Abdschads) wie dem Phönizischen, Syrischen, Aramäischen, Hebräischen und Arabischen. Es wird angenommen, dass der Buchstabe ursprünglich eine Hand symbolisierte. Und im Hebräischen und Arabischen bedeutet kaph | kaf Handfläche und Griff.

Der Handschlag, zur Begrüßung, bei einer Übereinkunft, fällt mir dazu ein, das Sehen und Anerkennen des Anderen. Doch wie schwer fällt uns diese Geste, nicht nur im Zeitalter der Viren, in der sie geächtet ist. Wieviel leichter ist es, Sniper durch Mauerlücken schießen oder Streubomben abwerfen zu lassen, Hass und Zerstörung auf die Welt niedergehen zu lassen. Das Individuum, es steht in der Schusslinie, es sieht die Begrenzung und ist ohnmächtig.

du aber stehst hier im zug der flatternden zungen
der siedler und dem endlosen fluch ihrer feinde
legst mit manischer geduld feste sprachziegel

unter deinen zorn und hängst einen strauß
olivenzweige auf die rotoren in deiner brust
(aus: nadelöhre)

 

4 – Gouache

So weit, so unzureichend die Auseinandersetzung mit den Gedichten Trautschs. Sie sind nicht leicht zu decodieren. Deren direkt sichtbare Bezüge und Zitate sind im Anhang nachgewiesen. Größer dürfte der Fundus der Querverbindungen sein, die unsichtbar bleiben, dem Lesepublikum und ggf. auch dem Autor. Der Band vereint Gedichte unterschiedlicher Bauart, vom kurzen Vers mit sehr offenem Ton bis hin zur lyrischen Prosazeile, die sich in den Dienst der Beschreibung stellt. Sie erfordern ein genaues und wiederholendes Lesen, eine selbstverständliche Anforderung.

Bei den Illustrationen von Rebecca Michaelis handelt es sich um Arbeiten auf Papier, Gouache und Tusche, die auf ihrer Webseite zu finden sind.

Mit der Umsetzung in Schwarz-Weiß, wie sie nun in dem Band abgebildet sind und dort die Kapitel eröffnen, bin ich unzufrieden.

Es geht ja nicht nur die für die Arbeiten bestimmende Farbigkeit (Hue) und deren Sättigung (Chroma) verloren. Da die Helligkeitswerte (Lightness) benachbarten Flächen manchmal sehr ähnlich sind, laufen die Flächen ineinander, wo sie mit dem Farbsehen zwar nicht kontrastreich, doch ausreichend voneinander getrennt sind.

Das fällt besonders auf Seite 65 ins Gewicht. Während die hellgelben Stellen nun als wenige weiße Flächen herausstechen, -stanzen, geht das Farbspiel von leuchtend orangefarbenem und blauem Quadrat in ein zwar abgestuftes, aber doch wenig aussagekräftiges Einheitsgrau über. Der Gesamteindruck in Schwarz-Weiß ist deutlich zu dunkel. Das liegt auch an jenen rötlich-weißen Stellen, die in mehreren Farbschichten arbeiten. Hier läuft das Weiß zu. Wesentlich detailreicher sind die mit 72 dpi dargestellten Abbildungen auf der Webseite im RGB-Farbmodus. Ist der Verlust zum Original nicht zu groß?

in Leidens Garten setz
ich noch den gelbsten Kredit.
(aus: Tulp)