Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

Nicht einmal das Datum des Todes Swimonischwilis kann ich herausfinden. Aber ich lerne von Turaschwili:

Gott weiß, daß es uns an Feinden und Eroberern nie gemangelt hat. Wenn das Leben eines Volkes durch die Eroberer bestimmt wird, versucht das Volk die aufgezwungenen Regeln zu brechen, statt sie zu akzeptieren und zu befolgen. Dadurch hat es auch keine Erfahrung darin, sein eigenes Leben zu organisieren. Das einzige, was uns der Feind selbst in die Hand zu nehmen erlaubte, war die Organisation der mit dem Tod verbundenen Dinge, daher können wir jedes mit dem Tod assoziierte Ritual haargenau befolgen, und dessen Krönung ist natürlich der Leichenschmaus. Wenn unser Leben den anderen gehörte, so war unser Tod ausschließlich unser Eigentum.

Und dieses Eigentum ist kein individuelles, sondern ein kollektives. So wie sich der Tod des nur 40-jährigen Dichters Swimonischwili  ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat, so ist es der Tod der Georgier, die einen Aufstand gegen die Deutschen begannen, am 5. April 1945, der in eine für beiden Seiten verlustreiche Schlacht, der letzten des 2. Weltkriegs in Europa, mündete. Dem Töten setzte erst die kanadische Armee am 20. Mai 1945 ein Ende, 15 Tage nach der Kapitulation der Deutschen in den Niederlanden.

– Jetzt mal langsam! Sortier dich mal! Worum geht es in dem Roman?
– Und was, wenn ich keine Lust habe zu sortieren?

Wir haben einen Mann und eine Frau, die in Email-Kontakt stehen, ohne sich persönlich zu kennen. Ihre Verbindung ist Amsterdam, die Nordseeinsel Texel einerseits, Tiflis, Georgien andererseits.

Sie sprechen, schreiben immer vergleichend. Hier: der Westen, das Traumziel, die Ordnung, die Freiheit, das Pittoreske der Architektur, die Luft zum Atmen, Naturräume, Grün in der Stadt. Dort: die Heimat, das Chaos, die Unfreiheit, die Stadt als Moloch.

Überall, wo es noch grün gewesen ist, bauen wir diese häßlichen Wohnblocks, damit glauben wir unseren Kindern etwas Gutes zu tun. Ja, natürlich, sie werden große Wohnungen haben, sie werden große schwarze Geländewagen fahren. Was sie bestimmt nicht haben werden, ist Sauerstoff. Ohne Sauerstoff kann man nicht leben. In Tiflis kann man bereits nicht mehr atmen.

Sie sprechen, schreiben immer vergleichend. Hier: die Frau, die Sehnsucht nach Liebe. Dort: der Mann, sein Verlangen nach Sex, seine glotzenden Augen auf die Schaufenster des Amsterdamer Rotlichtviertels, in den die Prostituierten auf Kundschaft warten.

Sorry, ich habe Dir schon wieder über Sachen berichtet, die Du womöglich gar nicht interessant findest, aber direkt zum Thema Sex überzugehen und mich mit Dir darüber zu unterhalten wäre mir schwergefallen. Es gibt nichts, weswegen ich mich schämen müßte, denn ich habe hier keinen Sex gehabt, und zwar aus mehreren Gründen. Den Männern gefalle ich hier genauso, wie es in Georgiern der Fall war, aber ich kann mich nicht entschließen. Wie ich schon sagte, nehmt ihr Männer die Sache mit dem Sex auf die leichte Schulter. Für uns Frauen ist die körperliche Nähe etwas viel Wichtigeres.

– Erzählst du eine Geschichte?
– Eine? Dass ich nicht lache! Tausende, wenn ich Platz hätte. Ich parliere, flaniere.

Turaschwili nutzt seine Aufenthalt in Amsterdam, die Stadt als ständige Projektionsfläche seiner Heimat zu sehen. Er glaubt, die Freiheit zu haben, abzuschweifen, herumzustreifen, aber er bleibt Gefangener seiner kollektiven Erinnerung: Tiflis, das andere Amsterdam, das Nicht-Amsterdam.

Wer einen konventionell gebauten Roman erwartet, wird vielleicht nach der Lektüre enttäuscht sein. Andererseits darf eine Erwartungshaltung, die sich aus einer Gernezuordnung und Verlagstexten speist, nicht übersehen, dass in der Durchkreuzung der Erwartung eine Kraft steckt, die sich eben nicht an einem Spannungsbogen abarbeitet, sondern, nie an einem roten Faden interessiert, das Kaleidoskopische in den Vordergrund hebt. Europa ist ein Flickenteppich, eine große Patchworkarbeit, an der die Menschen aus Georgien Anteil haben, gleich, ob in Amsterdam oder in Tiflis, gleich, ob im Exil oder in der Heimat.

– Warum ich dir das erzähle?
– Vielleicht, weil du es nicht besser weißt als ich!
– Ja, aber vor allem, weil ich keine Zeit mehr habe. Georgien ruft mich.