Edem Awumey: „Die schmutzigen Füße“

Papaoutai

Es wäre vermessen zu erzählen, bei meiner Fahrt vor wenigen Tagen durch Paris (aus der Basse Normandie kommend) wäre auf der Boulevard périphérique ein Taxi vor mir, von links oder rechts ist unerheblich, eingeschert, während zeitgleich im Radio der französischsprachige Hit aus dem Jahr 2013 von Stromae lief.

Wahrscheinlich war es weiter Richtung Osten, Richtung Deutschland, Richtung Heimat, zwischen Reims und Metz. Ich hatte jedenfalls auf den Song gewartet. Irgendwann musste er ja in diesem Urlaub laufen, auch wenn er schon nicht mehr ganz aktuell ist.

Es ist der beste Song, der meine Vatersuche in französische Sprache kleidet. Er hat etwas Dringendes, das ich spüren konnte, ohne mir bislang des genauen Wortlautes oder der dahinterstehenden Biografie des belgischen Musikers Paul Van Haver | Stromae gewahr zu werden.

Einen Song zum Soundtrack eines Buches zu machen, ist wagemutig. Zumal diese Entscheidung innerhalb der ersten Kapitel fiel und das Buch erst einige Stunden danach, spät am Abend, gelesen, mit ebenso wohliger Zufriedenheit als auch reichlicher Irritation, zur Seite gelegt wurde.

Schmutzige Füße von Edem Awumey (Übersetzung ins Deutsche: Stefan Weidle) ist nach Nächtliche Erklärungen der zweite Roman des kanadisch-togoischen Autors, der in deutscher Sprache vorliegt.

Er ist im Vergleich zu dem später erschienenen Roman Explication de la nuit sprachlich knapper gefasst, erratisch, entwickelt im Verlauf eine große poetische Kraft, verlässt dabei das rational Nachvollziehbare und wartet spät mit einer Bedeutungsebene auf, die ins politische Zentrum von Macht und Unterdrückung führt.

Hat die Frage Vater, wo bist du? bis zum Ende Bestand oder stellt sich die Frage nicht vielmehr anders herum? Ist es nicht der Vater, der den Sohn findet? Einen Sohn, der seine Entscheidung zu nächtlichen Taxifahren nicht erst in Paris getroffen hat, sondern bereits in Togo?

Es ist ein imaginiertes Gespräch, eine Traumsequenz des Sohnes Askia, in dem der Vater Sidi an den Sohn herantritt.

„Ich wollte meinen Cousin Camara Laye in Aubervilliers aufsuchen. In der Simca-Fabrik. Als ich an einem tristen Nachmittag 1971 ankam, erfuhr ich, daß er nicht mehr dort lebte. Weggezogen. Von da an bin ich meinem Weg gefolgt. Das ist ein Passion, dieser Weg. Unsere Passion. Die einzige, die wir haben.“
[…]
„Auf geht’s Telemach! Fahren wir! Die Gründe darfst du bestimmen!“

Die Entscheidung, die Heimat, ein Dorf in der Sahelzone nahe der malischen Stadt Nioro du Sahel, zu verlassen, fällt im Jahr 1967. Vater, Mutter, der fünfjährige Sohn Askia und der Esel ziehen Richtung Atlantikküste. Doch sie nehmen nicht die kürzeste Strecke westwärts, sondern einen Weg heraus in eine andere Klimazone, dort, wo es Wasser gibt und der Harmattan nicht die Körper und das Land ausdörren lässt. Sie gehen einen weiten Weg, vorbei an Menschen, die sich vor dem Dreck ihrer Füße ekeln. Die Fremden werden argwöhnisch beäugt.

„Eins ist jedenfalls sicher: Sie sind so schmutzig, daß man sie nicht ins Haus lassen kann.“

Im Winter 1967 findet die Familie Aufnahme in einem Dorf im Norden Togos. Der Dorfälteste weist ihnen eine zerfallene Hütte zu, ihr neues Zuhause. Der Vater kann Felder bestellen, die Mutter Kolanüsse verkaufen. Doch es ist nur eine Zwischenstation. Drei Jahre finden sie ihren Frieden, bevor auch hier das Wasser knapp wird und die Schuld den dreckigen Füßen zugewiesen wird. Sie werden verjagt.

Später wird Askia von Skinheads durch das nächtliche Paris gejagt. Was Awumey uns sagt: es spielt keine Rolle, ob die Ausgrenzung durch Wahrsager und Stammesweisen oder durch Rechtsradikale geschieht. Der Vorgang ist identisch.

„Kann es denn sein, daß unsere Gastfreundschaft so grenzenlos ist, daß wir all diese Dinge geschehen lassen?“

Eine rhetorische Frage, die einem Gewaltaufruf gleichkommt.

Die Familie zieht weiter, Richtung Süden, an die Küste, wo sie in einem Elendsquartier haust. 1970 verlässt der Vater die Familie, um sein Glück zu suchen und die Familie aus dem Elend zu führen. Frau und Kind bleiben zurück. Sie schuftet sich zu Tode, um dem Sohn eine Perspektive zu geben. Askia geht zur Schule, treibt sich aber auch auf der Müllkippe rum, wo er mit einer Gruppe Jugendlicher einen Hund quält, sadistische Spielchen, an die sich Askia erinnert, als er vor Springerstiefeln und Baseballschlägern in Paris davonrennt.

Paris, ein Mekka der schmutzigen Füße, wo sich die Gestrandeten treffen vor dem Centre Pompidou und anderen nach Pisse stinkenden Ecken, den Abbruchkanten der Stadt, die zu glänzen weiß, um diese Kehrseiten unsichtbar zu halten.

Hier also sucht der Sohn nach seinem Vater, fährt mit einem abgeschlossenen Studium Taxi, der Schein ist gefälscht, aber zumindest ist ihm die Tätigkeit des Fahrens, des Wegesuchens, der Abfahrt, der Ankunft, die eine Rückkehr ausschließt, aus Lomé bekannt. Und uns kommt die Geschichte ebenso bekannt vor. Sie erhält aber eine Wendung.

Die Zelle war eine undurchsichtige Organisation mit einer inoffiziellen Kommandostruktur, eine Miliz, die spezialisiert war auf Entführungen, Folter, Mord. Ein klassisches Pflichtenheft. Askia gehörte dazu und mußte für Ordnung sorgen. Verhindern, daß geredet wurde. Für ihn war es ein freiwilliges Engagement, ein Eintauchen in das, was man ein Säuberungsprogramm nannte und nennt.

Wir lernen Askia nicht nur als Opfer kennen, sondern als Täter, einer der zwar die Seiten wechselt, sich in Paris von der Miliz lossagt, sich absetzt, untertaucht, jederzeit mit einer Liquidierung rechnen muss.

„Auf geht’s Telemach! Fahren wir! Die Gründe darfst du bestimmen!“

Askia bewegt sich auf der Kehrseite der Stadt, trifft die Unterpriviligierten, die Kaputten, die Hoffnungslosen, die Abgerissenen, die Exilanten. Es sind flüchtige Begegnungen, die Askia in Einsamkeit und Anonymität zurücklassen. Er ist fixiert darauf, den ewig weißen Turbans seines Vaters zu sichten, um seine Fragen nicht mehr im Traum stellen zu müssen. Auch wenn er es glaubt zu können, Askia kann nicht mit den Löchern in seinem Stammbaum leben.

Er nimmt eines Abends eine junge Frau in seinem Taxi mit. Olia ist Fotografin und glaubt in den Gesichtszügen des Fahrers einen alten Mann wiederzuerkennen, der ihr vor Jahren Modell saß. Die Suche nach die Fotos, die Suche nach Sidi, bringt Askia und Olia näher, als sie fast zusammen sind, flieht sie, verabschiedet sich, geht ihren Weg weiter, der in Bulgarien begann. Das Exil macht bindungslos, bindungsunfähig.

Was zurückbleibt, ist ein Brief und Olias Frage:
„Wer bist du, Askia?“

Edem Awumey gelingt es meisterhaft, seine Figuren so zu beschneiden, dass neben einer nur noch skizzenhaften Lebensgeschichte das Exemplarische, das Stellvertretende offen zu Tage tritt. Er vereint individuelles Schicksal, kollektive Lebensprojektionen und deren erbarmungloses Scheitern.

Auch wenn im Traum der Vater seinen Sohn Telemach nennt, das Mythische dieser Prosa ist nicht die Rückverweisung auf Odysseus, sondern diese Reduzierung individueller Lebensgeschichte zugunsten des nicht ausgesprochenen Leids aller Gestrandeten. Die Sehnsucht, sie findet wenig Worte, sie plappert nicht, sie versteckt sich in Gesten. Doch Awumey spürt sie mit viel Empathie selbst bei seinen Nebenfiguren auf.

Er beschloß, heute nicht mehr Taxi zu fahren. Er ging jemanden besuchen. Monsieur Ali aus Port Said, einen Anonymus, mit dem er mal ins Gespräch gekommen war. Er hatte Monsieur Ali vor dem Jardin du Luxembourg kennengelernt, am Eingang von der Rue Auguste-Comte aus, gegenüber von Olias Wohnung.
[…]
Monsieur Ali aus Port Said machte also Tüten und Maronen für Touristen, und Askia setzte sich neben ihm auf den Bordstein. Das Grillfeuer wärmte sie, und Monsieur Ali aus Port Said fachte von Zeit zu Zeit mit einem kleinen Fächer die Glut an. Er sagte, daß er die Tüten und Papierpyramiden mache, um die Heimat seines Vaters nicht zu vergessen. Wann immer ihm eine sehr schöne große Tüte gelang, war er glücklich.


Lesung von Edem Awumey
internationales literaturfestival berlin [ilb] am 14.09.21 und 15.09.21