Dinçer Güçyeter: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“

An: script@elifverlag.de
Betreff: Nachtfalter

Es ist Nacht. Und es ist Deutschland. Wer könnte darüber Klügeres sagen als König Rio I.?
Oh, es ist ein schönes Land …
… bei Nacht …

Und was ließe sich Sinnfälligeres über deine Existenz sagen als
Nachtfalter werden alle Vertreter der Schmetterlinge bezeichnet, die nicht zu den Tagfaltern gehören?
Punkt. Fertig. So einfach ist es nämlich.

Wenn du aber solcher Sprache, solchen Definitionen misstraust, dann bleibt dir nur, an deine Handschrift zu glauben. Du hast keine andere Wahl. Sie wird dir ein Vademecum sein, das nicht verschwindet, selbst wenn es im Ofen verbrannt wird.

… und nicht mal dann!

Du musst durch die Erinnerungen hindurchschreiten, das Fruchtwasser wie eine verbrauchte Flüssigkeit auskippen und dich deiner Hölle stellen, mein Prinz.

Aber was sage ich dir: Du hast es ja bereits getan. Deine Gedichte sind dir, sie sind wunderbar. Deine Gedichte sind du. Und das ist gut so.

Albert (= der das Alphabet eröffnet)

***

Der 1979 in Nettetal geborene Werkzeugmechaniker, Lyriker, Verleger, Schauspieler und Regisseur Dinçer Güçyeter legt mit Mein Prinz, ich bin das Ghetto nach anatolien blues (2012), ein glas leben (2012) und Aus Glut geschnitzt (2017) seinen vierten Lyrikband vor.

Seine Texte sind Palimpseste (zugegeben: eines meiner Lieblingswörter – zur Mehrfachnutzung gut geeignet), wiederbeschriebene, überschriebene Identitäten, die an manchen Stellen allein stehen, aber zumeist mehrgestaltig durchscheinen, hält man das Pergament gegen das Licht. Der Dichter bedient sich dabei des Erinnerungsmaterials seiner Kindheit und führt uns biographisches Arbeiten vor.

Natürlich müssen wir uns hüten, im lyrischen Ich den Autor zu sehen, ausschließlich zu sehen. Niemand lebt als ein konstantes Ich. Es ist notwendig, mit Identitäten zu spielen, sie zu variieren, damit, wie die kanadische Künstlerin, Sängerin, Tänzerin, Schriftstellerin Vivek Shraya bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2021 gesagt hat, wir morgens nicht vor dem Spiegel stehen, um das Scheitern unserer starren Ich-Erscheinung zu resümieren, sondern vielmehr um offen zu bleiben und neugierig das Spiegelbild zu befragen: Wer möchte ich heute sein?

Diversität meint nicht das Akzeptieren von Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft, sondern eine Bereicherung für alle.

Die Gedichte Güçyeters sind von großer Klarheit, ohne ihnen eine Eindeutigkeit aufzuzwingen. Ich lese in einem offenen System, das ich an meine Biografie anlegen kann.

Es sind kleine Sätze, die sich einbrennen.

der Garten der Kindheit
auch er ist ein Verrat

Allein darüber nachzudenken, lohnt. Ich verstehe den Satz so, dass die Phantombilder der Kindheit, diese heftige Wünschen des unschuldigen Kindes eine Illusion ist. Das Lamento über die Eltern, es kommt nicht ohne das Kind zustande, das immer seinen Teil trägt, seine Bürde.

Beginnt der Band mit den vorgesetzten Zeilen

Vater, Mutter, wohin jetzt mit mir
wohin mit diesen Gedichten

und ruft dabei die Urschuld der Eltern am Kind auf, so nimmt sich das lyrische Ich bereits im zweiten Gedicht in Haft.

ich bin das Elfenbein unter ihrem Nacken
der Wächter unserer Haustür
die Klinge und die Naht ihrer Wunde
ich habe mein Werk vollendet.
verzeih mir, Mutter

In einem weiteren Textteil sucht das Ich die Nähe zu Männern.

im Schlitz von zwei Bergen hat man Ali mit einer Kugel in der Brust gefunden
in einer Hand den Abschiedsbrief des Geliebten
[…]
Ali wir sind die Handschrift eines verlorenen Dichters
die Sünde baut in unserem Traum ihr Haus

In 5:45 Galata Turm ist die Nachtschicht der Stricher und Huren in Istanbul vorbei.

das Verstehen ist unsere Kunst, nicht das Ficken
der Mensch ist nun mal ein Tempel der Geheimnisse

Hier muss ich an Elif Shafaks Roman Unerhörte Stimmen denken. Auch der Verleger des Elif-Verlags feiert hier das große Fest des Lebens in den angeblich schmuddeligen Ecken einer Stadt, um dann schließlich in die Rolle des Mahners zu schlüpfen, in dem sich die tiefe Zuneigung, die tiefe Abneigung zum Land seiner Geburt zeigt.

Deutschland, du verkrochener Vater, seit Mittwoch bin ich unterwegs, esse, trinke, lache, rede mit Freunden, lese&brüte Gedanken in Fremdenzimmern aus. und immer wieder denke ich an die Jungs, die einen schönen Abend in der Shisha-Bar (früher nannte man sie Teehäuser) verbringen wollten. dann denke ich an dich, Deutschland, ich denke an dich und erschrecke mich jedes Mal. ich glaube micht mehr an den Geist, den du uns bei jeder Gelegenheit mit blendenden Bühnenbildern aufgeführt hast. Dieses selbstverliebte, strengkomponierte Hologramm ohne pochendes Fleisch&Blut

Wir brauchen mehr dieser Mahnungen, mehr dieser Identitätsüberlagerungen, mehr dieser Schmerzerfahrungen. Das ist kein poetischen Wunschdenken, sondern politische Forderung nach Hanau, nach Halle, nach NSU 2.0, nach NSU, nach und nach, nach …

wie viel Jahre haben wir jetzt wieder verschwendet, um über die fruchtlosen Geschwätze einer Partei von Hinterbliebenen der Ofenwächter zu diskutieren. und was hätten wir in der Zeit zusammen heilen/aufarbeiten können?