Deine leise eindringende Stimme
Als sich am Ende des Buches immer mehr Schnee auftürmt, habe ich es begriffen: Die 24 Erzählungen von Elke Barker (* 1969), die in dem Band Und zwischen uns das Meer versammelt sind, sind lose nach Jahreszeiten gruppiert. Es gibt entgegen meines subjektiven Eindrucks also mehrere Jahreszeiten in dem Buch.
Dabei möchte ich doch gerne behaupten, dass der Sommer die überragende Rolle in Barkers Geschichten spielt. Es ist, um eine Hörbuch-Produktion von Peter Kurzeck zu zitieren: Ein Sommer, der bleibt.
Oder vielleicht mehr noch ist es eine Anhäufung von heißen Tagen, die unweigerlich an die Sommer von Zsuzsa Bánk in ihren Romanen Die hellen Tage, Der Schwimmer oder Sterben im Sommer denken lassen. Der Erzählband Bánks trägt den Titel Heißester Sommer.
Dass mit Kurzeck und Bánk zwei Namen aufgerufen werden, in deren Obhut man sich als Leser*in begeben kann, mit der Sicherheit, dort gut aufgehoben zu sein, dort gut versorgt zu werden und für die Dauer der Lektüre einen sicheren Ort zu haben, ist kein willkürliches Namedropping. Auch bei Elke Barker ist man in guten Händen. Sie erzählt einfühlsam und berührend.
Das mit Ariane war flüchtig. Wie dieser Sommer am See, den ich mit Schwimmen und Schreiben verbrachte. Dessen Tage einander ähnelten, ineinandergriffen wie Räder in einem Uhrwerk. In denen ich in Shorts und T-Shirt umherlief, immer mit feuchtem Haar und ein paar Sätzen im Kopf, die ich sogleich niederschreiben wollte.
(aus: Tauchen)
Das müssen wir jetzt klären: Bleibt der Sommer oder ist er aber flüchtig? Beides zugleich! Geht nicht? Geht doch!
Denn: So kurz die Begegnungen der Menschen, die Barker uns vorstellt, sind, so kurz ihre Geschichten, oftmals nur wenige Seiten lang, eher flüchtig, so lang bleiben sie im Gedächtnis. Die Wirklänge der Geschichten ist um ein Vielfaches länger als die Texte selbst.
Die titelgebende Geschichte Und zwischen uns das Meer kenne ich schon von Lesungen der Autorin, ihren Sound trage ich seit Jahren in mir, bewundere ihn. Jetzt beim Lesen war ich erstaunt, wie kurz dieser Text ist.
Kurz und lang, beides zugleich!
Der Stimme Barkers ist konzentriert und leise eindringend.
Diesmal zuckte er nicht zusammen, und auf dem Rückweg erzählte er, dass sein Großvater das Haus seines Herrn hatte verteidigen wollen und dabei von den Russen erschossen worden war. Seine Worte waren leise und eindringlich und drangen zu mir wie ein fernes Flüstern.
(aus: Kein Haus nirgends)
Barkers Kunst ist gleichermaßen das Erzählen und das Nicht-Erzählen. Sie bietet ein offenes System, in der nicht alles bis ins Kleinste ausgesprochen wird. Man muss bereit sein, Lücken zu füllen, die Geschichten selbst zu denken, zu hinterfragen, auf die Suche zu gehen, nach den Protagonist*innen: Wer sind sie? Welches ist ihr Wesen? Das ist eher eine lyrische, denn epische Auffassung, dort Verknappung, Verdichtung, die an anderer Stelle Platz schafft, Freiheit.
Ich habe den Eindruck, dass Barker dieses Prinzip ausreizt. Wie kann ich eine Geschichte erzählen und wieviel kann ich dabei noch offen lassen?
Manchmal geht es nicht auf.
Ich übergab mich, und als der Reiz nachließ, setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen hatte, als ich ein unterdrücktes Kichern hörte. Der Duschvorhang, der zugezogen gewesen war, bewegte sich, und ich sah Simone mit einem der älteren Männer. Und plötzlich wusste ich, was hier lief, weshalb sie alle hier waren. Ich taumelte aus dem Bad …
(aus: Simone)
Nun, ich habe schon ausreichend Phantasie, mir die Szenerie mit sexuellen Handlungen auszufüllen. Klar, die beiden werden nicht nach Kontaktlinsen in der Duschtasse gesucht haben. Aber hier verweigert sich die Autorin, sie lässt es nicht offen, sondern findet nicht die adäquaten Worte, um den Raum zu füllen, den sie eröffnet hat. Das ist ein Unterschied. Die Figur Simone kommt zur irritierenden Verallgemeinerung, sie wisse, weshalb sie alle hier waren.
Eine Drogen- und Sexparty? Ein enges, grünes Kleid und drei ältere Männer, ein Kichern und ein sich bewegender Duschvorhang. Das ist mir zu wenig und zu grob, zu stereotyp gezeichnet.
Meistens geht es auf.
Die Liebesgeschichte zwischen Martha und Friedbert am Ende des Zweiten Weltkrieges ist flüchtig und bleibend. Flüchtig, weil Friedbert verschwindet. Bleibend, weil Martha ihre Erinnerung mitteilt, sie an eine andere Generation weitergibt. Wir kennen die Vorgeschichte von Martha und Friedbert nicht. In wenigen Sätzen erfahren wir die Gegenwart der jungen Martha.
„Einmal ist er einfach losgerannt. In den Wald hinein und ich hinterher. Knackende Äste unter mir und ungewohnte Geräusche. Bis Friedbert mich hinter einem Baum abpasste, wir uns umarmten, küssten.“ Martha schüttelte unwillig den Kopf. „Ich sollte aufhören. Ich bin alt und werde sentimental.“
(aus: Blockhaus)
Friedbert mit seinen blauen Augen, ist er Deserteur? Oder seinem Namen folgend Pazifist? Verweist Martha auf eine jüdische Abstammung? Warum wurden Friedberts Eltern abgeholt? Wie hat Martha überlebt? Es spielt keine Rolle. Die Geschichte wird getragen von der Liebe zweier Menschen in Zeiten von Kriegsverbrechen und Gräueltaten.
„Kurz vor Kriegsende ist Friedbert dann verschwunden. Ich habe das Blockhaus abgesucht, bin in den Wald gelaufen.“
„Sie haben ihn also doch geholt?“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Das kann nicht sein. Dann wären dort Sachen zurückgeblieben, Kleider, Essen, seine Decken. Ein Chaos. Denn immer blieb ein Chaos zurück, wenn sie jemand holten. Und nie durfte jemand etwas mitnehmen. Sie haben sie auf den Straßen vor sich hergetrieben, manche noch im Schlafanzug.“
(aus: Blockhaus)
Ein kraftvolles Debüt!
Als Rezensent habe ich keinen Wunsch an die Autorin frei. Als ehemaliger Kollege der Darmstädter Textwerkstatt vielleicht. Jedenfalls traue ich Elke Barker zu, ihre behutsame Stimme auch für eine längere Prosa einzusetzen.
* * *
Mit dem Prosadebüt Und zwischen uns das Meer von Elke Barker wird der Öffentlichkeit Band 1 der Edition Darmstädter Textwerkstatt im axel dielmann-verlag vorgestellt.
Kurt Drawert und Martina Weber prägen schon seit Jahren, Jahrzehnten eine Institution, die viele Schreibende hervorgebracht hat. Manche davon kamen schnell zu Einzelveröffentlichungen und Preisen. Andere, nicht weniger begabte Autor*innen, blieben dem breiten Publikum unbekannt.
Die Darmstädter Textwerkstatt hat durch die Herausgabe von Anthologien immer wieder ihre Arbeit dokumentiert, über die Jahre in verschiedenen Verlagen.
Möge die nun begonnene Reihe ein erfolgreicher und dauerhaft sicherer Ort werden, Autor*innen der Darmstädter Textwerkstatt in Einzelveröffentlichungen vorzustellen und die oftmals jahrelange Feinschliff-Arbeit an ihren Skripten zu würdigen.