Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling“

Lepcha lernen

Lepcha ist eine von ca. 7000 Sprachen, die momentan auf der Erde gesprochen werden. Noch, muss man sagen, denn ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte ausgestorben sein wird.

Auch Lepcha, das in Teilen Indiens (Sikkim, Darjeeling), Nepals und Bhutans gesprochen wird, ist eine gefährdete Sprache. In Gangtok befindet sich das Sikkim’s Endangered Language Documentation Project (SELDP) an der School of Languages and Literature, Sikkim University. Von dort kam mit der großzügigen Unterstützung von Nim Tshering Lepcha (Übersetzer), Pabitra Chettri (Technische Assistentin, SELDP) und Samar Sinha (Leiter, SELDP) ein Satz in Lepcha zu mir.

Er lautet: sonapre kursuksa miŋtʰjuŋ ɡum

Es ist eine Transkription, auf eine Fassung in Lepcha-Skript hoffe ich noch. Ich bin kein Linguist, also warum interessiert mich das?

Seit vier Jahren jage ich für ein Projekt der Künstlerin Vera Röhm mit Tausenden von Emailanfragen den entlegensten Sprachen unseres Planeten hinterher.

Dabei trete ich in Kontakt mit Professor*innen, die seit Jahrzehnten an einer Sprache forschen, aber auch Student*innen, die noch ganz am Anfang ihres Studiums sind und doch vielleicht bald die einzigen Expert*innen für die jeweilige Sprache sein werden.

Was motiviert Menschen, fremde, gefährdete Sprachen zu studieren?

Für Paul, eine der beiden deutschen Protagonisten der Reiseerzählung Zeit zieht nicht von Wolfgang Allinger und Ute Kliewer ist die Frage leicht zu beantworten.

Sein Interesse an der Sprache ist eine Flucht vor den Erwartungen der Eltern, gepaart mit Fernweh.

Ina nervten die ersten Wochen des Jurastudiums in Marburg, Paul auch. Er war auf der Suche nach Alternativen. Es sollte etwas Ausgefallenes sein und am besten weit weg.

Doch das Leben hat andere Pläne für Ina und Paul (und ihre Clique). Erst nach Jahrzehnten, in denen das Zauberwort Lepcha nie ganz verschwunden war, aber nicht zur jeweiligen Lebenssituation passte, verabreden die beiden eine Reise nach Darjeeling und Sikkim.

Von dieser Reise, den Menschen und Landschaften, den die beiden begegnen, erzählt dieses Buch, das sich schwer fassen lässt. Ist es eine Reiseerzählung, mehr: ein Reisetagebuch? Es stellt uns drei Menschen vor, die im Lauf der Reise von Begleitern zu Freunden werden: Dorje, Binodh und Diwash. Wir erfahren ihre Lebensgeschichte. Und auch Ina und Paul lassen ihr Leben Revue passieren.

Das ist fiktional angelegt, aber doch bricht die Authenzität an vielen Stellen durch. Diese Reise hat stattgefunden. Und davon legt das Buch Zeugnis ab. Einige eingefügte Fotos verstärken das Dokumentarische des Textes.

Was bleibt, ist aber die Frage: warum Lepcha lernen?

Jahrzehnte zuvor war es für Paul die Absage an die bürgerliche Welt des Elternhauses. Aber was ist es nun?

Ich bleibe noch, um endlich das nachzuholen, was ich schon seit vierzig Jahren tun will. Machst du mit?

Auch für Ina ist es eine Auseinandersetzung mit ihren Eltern, die aber im Gegensatz zu Pauls Eltern Deutschland verlassen hatten und in Sikkim lebten.

Paul dachten an seine Eltern. Ob es ihnen hier gefallen hätte? Wenn sein Vater nicht in der Kanzlei thronte, fuhren sie ab und zu nach Domburg oder ins eigene Ferienhaus in die Oberpfalz, aber nie anderswohin.

„Mein Großvater erzählte, dass hier fast fünf Jahre lang eine Frau und ein Mann gewohnt haben, sie wollten dann weiter nach Deutschland. Sie brachten den hiesigen Kindern Englisch bei, saßen mit ihnen unter dem großen Dach bei der Wiese. Oft haben sie zusammen gesungen. Dann kamen die Eltern der Kleinen aus ihren Häusern, lauschten und klatschten. Da gab es bei uns noch keine Schule.“
Ina fragte: „Wissen sie eventuell die Namen?“

Sie ist nun gewiss, das Zimmer gefunden zu haben, in dem ihre Eltern gelebt hatten. Lepcha lernen heißt für sie, etwas an Vater und Mutter zurückgeben, etwas mit ihnen zu teilen.

Die Covergestaltung ist von Florian L. Arnold. Chapeau!