Nevfel Cumart: „Waves of Time – Wellen der Zeit“

Geborgte Heimat

Vor wenigen Tagen gelangte der zweisprachig deutsch-englische Lyrikband Waves of Time – Wellen der Zeit von Nevfel Cumart (* 1964) in meinen Besitz. Der Lyrikband erschien 1998, Eoin Bourke (1939–2017) übersetzte die Gedichte ins Englische.

So schließen sich Kreise. Mit Eoins Frau Eva habe ich an Übersetzungen der irischen Lyrikerin Moya Cannon ins Deutsche gearbeitet (der Band erschien 2017). Ich war zweimal zu Besuch in Berlin, wo ich Eoin begegnete und mit Eva intensiv an den Übersetzungen arbeitete. Berlin und Galway, zwei Heimaten eines Paares, das vom Deutschen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche übersetzte, das sich der Sprachvermittlung, der Kulturarbeit verschrieb.

berlin II

wie kann diese riesige stadt
mit ihren gefräßigen häusern

wie können all diese kinder
in den tiefen straßenschluchten

wie können diese steinbrücken
die endlosen schienenstränge

wie können sie mein gott
mit nur einem bissen sonne leben.

Mit der Lektüre dieses vierundzwanzig Jahre alten Gedichtsbands wird der Übersetzer lebendig und kraftvoll.

behind the wheel on the wrong side
my friend eoin
an irishman straight out of a folktale
flies along the country roads
towards the sun
would make even michael schumacher
flush with shame –
a wild prelude
to an evening
with familiar faces
song guitar and poems

(from: galway)

Cumarts Gedichte sind nicht in die Jahre gekommen. Sie sind von unveränderter Aktualität, gefasst in einer klaren, präzisen Sprache.

über die sprache I

die sprache meiner eltern
ist arabisch
heimlich nur gesprochen

die sprache ihres landes
ist türkisch
gesprochen auf der straße

in der geborgten heimat
ist deutsch
die sprache meiner gedichte

Wenn ich in der Rezension von Dinçer Güçyeters: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ davon gesprochen habe, dass die deutsche Literatur mehr Mahnungen, mehr Identitätsüberlagerungen, mehr Schmerzerfahrungen benötigt nach Hanau, nach Halle, nach NSU 2.0, nach NSU, nach und nach, nach …, führt uns Cumart zurück in die Neunziger und lässt keinen Zweifel an Rassismus  und Xenophobie in Deutschland.

Zeilen von erschütternder Klarheit:

[…]
auch mölln kennst du sicher nicht
und solingen oder hoyerswerda

es sind brennende städte
meine tante
deutsche städte
die vor haß verbrennen

sie fürchten sich vor dem hunger
vor der zukunft im wiedervereinten deutschland
mögen die ausländer nicht mehr
deswegen werfen sie nachts molotow-cocktails
in asylantenheime
oder zünden häuser von türkischen familien an
männer kinder und frauen verbrannten
manche von ihnen sind behindert gewesen
andere sind bis an ihr lebensende
von den brandspuren gezeichnet
und die anschläge nehmen kein ende

sie haben nichts gelernt
aus der vergangenheit
immer mehr von ihnen strecken den rechten arm aus
und die verantwortlichen lassen sie gewähren

(aus: neunter brief an tante schahdiye)