Mario Szenessy: „Verwandlungskünste“

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Dieses Buch ist ein Wunder aus einer anderen Zeit. Es erschien 1967 im S. Fischer Verlag, zu einer Zeit als Peter Härtling als Cheflektor verantwortlich zeichnete.

Die Gestaltung des Covers ist von schlichter Konzentration auf das Wesentliche, die Rückseite eine leere weiße Seite. Das muss für die heutigen Marketingexperten unfassbar sein, diese verspielte Chance, mit markschreierischen Zitaten bekannter Magazine Werbung zu machen, um den Verkauf des Buches anzuheizen. (Oh ja, der Dichter sitzt in seiner ungeheizten Dachkammer und wartet vergeblich auf Brennholz!)

Mario Szenessy, ein deutschschreibender Ungar, lebte von 1930 bis 1976, geboren in einem Ort im westlichen Banat, der heute Zrenjanin heißt, im wechselvollen Spiel der Historie des Balkans aber viele Namen trug, heute Teil Serbiens ist, genauer gesagt der autonomen Provinz Vojvodina. 1942 ging er nach Ungarn, nach Szeged. 1963 kam er nach Deutschland, zunächst Tübingen, später Berlin. „Verwandlungskünste“ ist sein Erstlingswerk.

Der Roman beginnt am Schreibtisch mit einem Blick auf einen Wandkalender des Jahres 1965. Der Autor lebt in Deutschland und sein Ich-Erzähler breitet die Erlebnisse während der stalinistischen und post-stalinistischen Ära Ungarns in Tagebüchern und Notizheften vor sich aus.

„Ich sage es kurzheraus: die Kompilation dieser heterogenen Fragmente wäre ein unmögliches Unternehmen, wenn ich bestrebt wäre, den ursprünglichen Wortlaut meiner Vorlagetexte beizubehalten; ich muß, ganz im Gegenteil, nicht wenig Mühe daransetzen, um die sprachlich und stilistisch sehr unterschiedlichen Notizen überhaupt aneinanderreihen zu können. Wie denn auch nicht? Sie sind in verschiedenem Lebensalter, in verschiedenen Ländern und Sprachen, abgefaßt, und wenn es mir nur einigermaßen gelingt, die schlimmsten und hervorstechendsten Unterschiede einzuebnen, so werde ich sehr zufrieden sein.“

Als Leser mag ich Texte, die mich von Beginn an führen. Gerne weiß ich schon auf den ersten Seiten, woran ich sein werde. So gesehen bin ich wohl eher ein konservativer, Experimenten abgeneigter Konsument von Literatur. Vielleicht macht diese Grundhaltung meine tiefe Faszination von Texten aus, die diese Erwartung nicht erfüllen, im Gegenteil, nur ein partielles Interesse bekunden, eine dem Konsument nachvollziehbare Struktur mitzuliefern.

Ich lese „Verwandlungskünste“ und habe das Gefühl, ich verstehe kein Wort. Mir entgleiten die Worte und doch tragen sie sich in meine Träume ein, schwirren im Unterbewusstsein umher, sich die Ordnung suchend, die ich für mein Leben als notwendig erachte.

Ich erinnere mich an ein Buch, das eine ähnliche Faszination auf mich hatte, „Sanduhr“ von Danilo Kiš, einem Autor, der ebenfalls in der Vojvodina geboren wurde.

Szenessys „Exkurs über die Pendeluhr“ (3. Kapitel) führt scheinbar weit weg vom Ungarn der 40iger und 50iger Jahre, zurück in die Bestialität des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Neuordnung Europas, die für den kriegsversehrten Jean-Paul ein Craskkurs als Uhrmacher bietet, ohne das er die Feinheiten dieses Handwerks je nahegekommen wäre. Um so feiner und vielschichtiger die Betrachtungen Szenessys über einen Gegenstand, der auf seiner Kommode stand und über Herkunft Auskunft gibt.

Es sind die Systeme, die keinen Raum lassen für Phantasie und Neugier, für zutiefst individuelle Werte, die die Menschen ausmachen. Die Systeme wollen Angst verbreiten und gleichschalten, sie brauchen das Dogma und den Gewaltexzess, um dieses zu sichern.

„Wir erhalten vom Instrukteur jene Broschüren, die nunmehr als Leitfaden zu unseren weiteren Unternehmungen dienen sollen, über die Errungenschaften der sowjetischen Landwirtschaft, die blühende Industrie des Brudervolkes, über die unübertrefflichen charakterlichen Eigenschaften des Sowjetsoldaten, über seine märchenhafte Ausdauer und Hilfsbereitschaft gegenüber den Besiegten, über den Kampf gegen die Bourgeoisideologie und die stinkende Dekadenz ihrer Vertreter.“

Neugier und Phantasie lassen Jim, einen Freund des Ich-Erzählers eine Tropfsteinhöhle entdecken. Doch das ist nicht sein Auftrag.

„Sie haben meinem eindeutigen Befehl zuwidergehandelt, sagte er, Sie haben das Vertrauen, das die Partei in Sie setzte, schändlich mißbraucht, das ist ein überaus dummes Zeug, was Sie von einem Verbindungsweg daherreden, wir sind im Auftrag der Akademie der Wissenschaften hier und haben ein streng umgrenztes und durchdachtes Forschungsprogramm durchzuführen, Ihre ausschließliche Aufgabe besteht darin, Messungen an der Oberfläche vorzunehmen und nicht Zauberschlösser zu entdecken und zu besichtigen …“

Das Buch hat kein Ende, Es endet zwar, aber die Geschichte der Menschen, die diese Geschichte erleben, überleben oder an ihr streben, ist lang, sehr lang. So endet das Buch willkürlich mit der Beschreibung einer Flucht durch die Kanalisation Budapests, um den russischen Invasoren im Herbst 1956 zu entgehen. Das erinnert verdammt genau an die Flucht von David Safiers Protagonistin Mira in „28 Tage lang“, als die letzten Aufständigen des Ghettoaufstandes versuchen, den Häschern durch die Unterwelt Warschaus zu entkommen. Szenessy endet unerwartet hoffnungsfroh, wenn er schreibt:

„Alle Angst der letzten Stunden schwand; der Anfang einer neuen Epoche zeichnete sich ab, ein neues Leben begann.“