Michael Spyra: „Die Berichte des Voyeurs“

Und seh‘ ich dich dort unbekleidet laufen,
ich sollte klingeln, um uns Stoff zu kaufen.

Diese beiden Verse aus dem ersten Band von Michael Spyra (* 1983 in Aschersleben) geben die Richtung vor, in der sich auch die 100 Liebesgedichte des Bandes Die Berichte des Voyeurs bewegen. Es ist eine Pendelbewegung zweier Menschen zwischen Nacktheit und Verhüllung, zwischen Schamlosigkeit und Scham.

Schrieb ich angesichts gardinenloser Fenster von „einem Zwischenraum von Voyeurismus und Banalität“ und zeigte mich enttäuscht über das Ende einer Verhüllungs- oder auch Entrückungssehnsucht (uns Stoff kaufen), so muss ich mich angesichts des Titels des neuen Bandes ernsthafter mit dem Spiel, den Spielarten der Liebe beschäftigen, also deren Leichtigkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn die Anziehungskraft zweier Menschen ist, das belegen Die Berichte des Voyeurs, ein Untersuchungsgegenstand, der einen langem Atem braucht, eine genaue Beobachtungsgabe, ein richtiges Timing, ja geradezu eine Fürsorge für die Beobachteten und einen starken Hang zur Diskretion. Spyra nimmt uns als Leser*innen hier in die Pflicht, bei aller Direktheit, mit der zwei Menschen aufeinanderzusteuern und sich vereinen.

Weniger verquast ausgedrückt: Hab ich Bock, die Rolle des Voyeurs anzunehmen? Macht es mir Spass, anderen beim Sex zuzuschauen?
Die holländischen Fenster sind seit Ende des 20. Jahrhunderts freilich die Bildschirme unserer elektronischen Endgeräte, die Zugang erlauben zu einem unendlichen Fundus an Pornografie. Diese Industrie wäre ohne Voyeure längst zusammengebrochen. Wäre unsere Welt dann reiner, unschuldiger? Statt Spyware und Erpressungsversuchen ein nostalgischer Blick durchs Schlüsselloch, durch ein Loch in der Wand oder ein kleines Oberlicht? Man sieht es doch regelrecht vor sich, wie der Kerl (ein anderer oder ich, hätte ich mich getraut) auf einer wackeligen Mülltonne steht, um einen Blick auf nackte Körper zu erhaschen. Und dabei maximal ein saftige Ohrfeige riskiert.

Dann duscht sie sich den Schweiß von ihrer Haut.
Dann ist das Shampoo hinterhergeflossen.
Dann sieht sie ihn, wie er durchs Fenster schaut.

Sie sagt den anderen nichts und sie fixiert ihn.
Sie seift sich nochmal ein und sie bewegt
sich nur für ihn, bis dann das Glas beschlägt.

(aus: Von der Liebe zum Fußball zur Liebe zurück)

Was meine Jugend angeht, stand ich nicht auf wackeligen Mülltonne rum. Das hatte ich, klingt erst mal großkotzig, gar nicht nötig. Ich darf auflösen: Meine Eltern nahmen uns Kinder mit in ihre FKK-Urlaube. Wir haben alles gesehen, tiefe Einblicke gehabt. Manchmal wäre ein Stück Stoff angebracht gewesen!

Freilich ist es zu einfach, alle Schuld von mir zu weisen, schließlich hatte ich ja mit den Jahren zunehmend Spaß an meiner Rolle des jungen Voyeurs unter erwachsenen Voyeuren in den Freikörperzoos Jugoslawiens und Frankreichs.

Also gut, ich nehme die Rolle an! Ich kann Spyra ins zweite bis ins vierte Kapitel folgen und sehen, ob es ihm gelingt, dass ich schamvoll die Augen niederschlage oder schamlos und mit geweiteten Augen in die Tiefen des Rhythmus‘ der sich Paarenden gleite.

Es ist weder das eine noch das andere geworden!

Bei hundert Arten, von der körperlichen Liebe zu sprechen (zumal wir uns mit dem Voyeur in einem streng binären System bewegen), wir dürfen uns da nichts vormachen, kommt es zu Redundanzen (er fährt hin, sie steht in der Tür, er hetzt die Treppe hoch, sie lässt ihn ein, er geht ab), Routinen, zu Verkürzungen des Vorspiels, zum Wegfall des Nachspiels. Auch Spyras Gedichte arbeiten gegen diese Abnutzung an, suchen den neuen Kick, neuen Spielarten, sie packen Sexspielzeug aus, berichten von BDSM-Praktiken oder weiteren Fetischen.

Er führt sein kleines Mädchen in die Wohnung
und spielt den Vater übertrieben nett.
Sie vögeln, dabei pinkelt sie ins Bett.
Er zögert. Sie verbietet sich Verschonung.

Sie kreischt, das klingt durchs angekippte Fenster.
Er tunkt sie ein und weiß nicht, wer er ist:
Perverser, Pornostar und Exorzist.
Sie rollt die Augen, und sie sieht Gespenster.

(aus: Daddy’s Girl)

Bei allem körperlichen Genuss, den sie und er erleben, bei aller Leichtigkeit, mit der über das Zusammentreffen der Geschlechtsorgane berichtet wird, zunächst unbemerkt, dann deutlicher zu Tage tretend, wird die Einsamkeit, derer, die sich gerade eingesamt haben, deutlich.

Sie kommen, und dann sind sie sich egal.

(aus: BDSM)

Nur wenig später stehen sie schon beide
am Wasserhahn: Sie spült sich die Scheide,
er wäscht sich ihren Schweiß aus dem Gesicht.
Mehr war es nicht. Mehr war es diesmal nicht.

(aus: Der Quickie)

Ich bin in Turnhallen groß geworden. Lange Zeit als Jüngster einer Gruppe von Jungs, die sich dem Kunstturnen widmeten. Wo Körper in hautnahen Trikots stecken, ist es nicht verwunderlich, dass sie Begehrlichkeiten wecken. Ein Reim! Sich einen Reim auf das Leben machen!

Ich spreche ausdrücklich nicht von sexuellen Übergriffen durch Trainer*innen an Kindern, die, wie wir heute wissen, so häufig stattgefunden haben, dass von Ausnahmen zu sprechen, nicht mehr möglich ist.

Ich spreche von sexuellen Phantasien von Jugendlichen, die das Spreizen der Beine im Spagat erlitten, im Kopf sich aber angenehmeren Stellungen widmeten.

In diesem Zusammenhang hat es Hervé Guibert einmal geschafft, in einem seiner Bücher eine sexuelle Phantasie zu beschreiben, bei dir ich mich erwischt, ertappt fühlte, mit gerötetem Gesicht und die Augen schamvoll niedergeschlagen. Es ging um eine Penetration auf dem Trampolin springend.

Spyra erreicht meine Schamgrenze nicht, wenn er schreibt:

Sie hängt sich an die Ringe und sie legt
sich auf den Bock und schwingt sich auf den Barren.
Er hängt an ihr. Er hat sich mitbewegt.
Sie glotzen, wie sie aus Spiegeln starren.

(aus: In der Turnhalle)

Letzlich kann man es in Turnhallen machen, wie an jedem anderen Ort auch, aber nicht jede Phantasie dürfte praktikabel sein.

Was die gebundene Sprache Spyras angeht, muss ich mich mit seiner unbändigen Sprachlust, seiner Freude am Reimen arrangieren. Ich habe ihn vor langer Zeit mal gefragt, warum er reimt. Seine Antwort war: „Weil ich es kann!“
Dem ist zuzustimmen. Die Berichte, und da nehme ich das Motiv der Ernsthaftigkeit des Voyeurs auf, sind streng gebaut und zeugen von großer Disziplin. Spyra arbeitet mit reinen Endreimen, in verschiedenen Reimschemata. Darüber können andere Menschen schlauer sprechen als ich, da halt ich besser meine Klappe, auch wenn ich irgendwo mal ein Sonett gesichtet zu haben glaube.

Neben den körperlichen Bedürfnissen finden Leser*innen gelegentlich auch philosophische Merksätze.

Er knotet das Kondom. Sie unterhalten
sich über dies und das: Die Liebespaare,
sagt sie, sind nicht viel mehr als Spukgestalten.

(aus: Die Hobbyhure)