Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht“

Den Toten mit Grippe

La eternidad no es un pañuelo, ¿sabes?

 

Freunde, wie stelle ich es mir vor: Caracas auf einem Taschentuch, / in dem die Barrios das Muster bilden auf der blanken, geglätteten Baumwolle / und Rotze schnell wachsende Krebsgeschwüre sind, die wuchern, / den alten Kern auffressen mit der Gewalt einer ewigen Krankheit, / die wir nicht aussprechen können, weil unsere Münder zerschossen und verfault?

Freunde, wie übersetzen wir Worte, spiegeln deren Sinn, wiewohl wir (noch) / der Grammatik des sozialen Friedens frönen? Unsere Schreibtische stehen auf vier / Beinen und tragen die Last unserer Ellbogen, deren Rauheit die Joppen / zurückliegender, glücklicher Tage längst durchgescheuert. Ach, eure ewige / Husterei! Euer nie endend wollender Schleim, der eure Nasen gefangen hält!

Diese Zeilen reagieren auf das Gedicht VII (Planto por la muerte de Maese Don Domingo).

Es ist mein hilfloser Versuch, die Distanz zwischen Caracas und Europa zu verkürzen, die Riesenlücke zwischen einem collapsed state und noch funktionierenden Demokratien zu schließen. Kann ich nun, nach ein paar hingeworfenen Zeilen, beginnen, eine Rezension des Buches zu schreiben? Wie verhandeln wir Lyrik angesichts der Toten, die uns den Spiegel vorhalten?

Seht, sagen sie, seht, was euch noch erwartet! Oder glaubt ihr wirklich, ihr seid besser als wir? Glaubt ihr, ihr habt das Glück gepachtet, und wir einfach für immer das Pech, beispielsweise in eine Kugel zu laufen, beim Versuch, Brot zu kaufen, für die Familie, für die Kinder?

Caracas ist kein weit entfernter Ort.

Sie hatten nicht mal ein Laken dabei,
um ihn abzudecken, hatten ihm nicht mal
eine Jacke drübergelegt.
Sein Gesicht zu sehen, war nicht möglich, die Kugel
hatte ihm den Schädel von hinten zertrümmert,
und jetzt lag er mitten in einer Pfütze
aus Blut und Pisse und Scheiße
(sein Schließmuskel war erschlafft).
Niemand kriegte den Geruch mit,
den das eisige Licht verborgen hielt.
Das war kein Körper mehr, das war etwas anderes,
Zurückgeklapptes, Durchgestrichenes.
Etwas, das die Beziehung zu allem verloren hat.
(aus: XIII)

Mit dem zweisprachigem Gedichtband Auf dem Kopf durch die Nacht (Originaltitel: Salvoconducto, 2015) des venezuelanischen Dichters Adalber Salas Hernández (* 1987 in Caracas) bringt das Übersetzungsteam Geraldine Guetiérrez-Wienken und Marcus Roloff Texte ins Deutsche, die einem Heimatland, einer Heimatstadt (nicht) gewidmet sind.

Caracas, los que van a morir no te saludan.

Caracas, die Sterbenden grüßen dich nicht.
(aus: I)

Es ist dies der erste Satz des Bandes!

Die Gedichte bewegen sich zwischen Wehklage und Anklage: Wehklage der Sterbenden, der Toten und ihrer Hinterbliebenen, Anklage der Verantwortlichen.

Armer Präsident, Gefangener seines schwarzen Golds!
Hat ihm irgendein Minister aus Versehen verraten, dass
eine Flagge nicht dazu taugt, dem Regen zu widersprechen
Und die Hundekälte zu vertreiben?
Wird endlich offenbar, welcher Staat den Namen Flucht trägt?
(aus: X. Sonettesk und redundant)

Ich habe ewig dafür gebraucht, zu verstehen, dass / mein Land ein geographischer Missgriff ist. Eine triviale Verheißung, ein / von Gehörlosen erfundenes Paradies. Ein Wirrwarr aus Stricken und Seilen, / ein Chaos aus Hölzern und Fleisch. Die Wiege des Bauschutts, der Plagiatskunst, / ein Streifen Staub, fasziniert vom Treiben des Meeres, dieses Tier, das nicht / stillstehen kann, weil es verdursten würde. Euer Ehren, betrachten Sie bitte / die Landkarte: eine willkürliche Anhäufung von Linien, verängstigten Adern und / schlecht gesetzten Flicken. Ich sage es Ihnen freiheraus: eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass meine Heimaterde ins Reich Gottes gelangt. / Païs, Pays, Pàis, Paîs – keine Rechtschreibung kann es aufrechterhalten. / Es ist kein Heimatland; es ist eine Wette, die wir verloren haben.
(aus: XXX. Brief aus Jamaika)

Adalber Salas Hernández‘ Gedichtband ist ein außerordentlich starkes Buch in deutscher Übersetzung, das wir der Beharrlichkeit von Geraldine Guetiérrez-Wienken und Marcus Roloff verdanken, die nicht nur präzise Übersetzungsarbeit geleistet, sondern nicht nachgelassen haben, für das Skript Förderung und mit der parasitenpresse von Adrian Kasnitz einen Verlag zu finden.

Die Gedichte erinnern uns in brutaler und eindringlicher Sprache an einen fatalen Irrtum: Wir in Europa sind nicht Zentrum, wir sind auch nur Peripherie. Früher oder später.

Und:
Caracas ist kein weit entfernter Ort.

Der Sommer in Deutschland ist vorbei. Regen ist angesagt. Inflation.
Grippe- und andere Krankheitswellen. Schleim, der unsere Nasen gefangen hält. Kälte, die uns das Mark aus den Knochen zieht, in dem Moment, wo wir fossile Brennstoffe verheizen wollen.

Wer stopft sich mit ihnen die Taschen voll? Sind wir auf einmal diejenigen da unten in der Ungleichheitsgleichung: Wer immer da oben, wir unten? Sind wir bereit zu lesen, was auf uns zukommt?

Llueve. En esta ciudad siempre llueve. El agua
cae con una intensidad que sólo pertenece
a las fábulas o los sueños. Cae seria, insistente, casi
sólida, una tela hecha por manos sin ojos, saliva
de una boca que nos cubre. Llueve sobre
cada moneda que circula por los mercados, por los
centros comerciales, en cada billete empapado de
sudor y bilis.

Es regnet. In dieser Stadt regnet es ununterbrochen. Der Regen
fällt mit einer Intensität, die man nur aus
Märchen oder Träumen kennt. Ernst fällt er, beharrlich, beinahe
fest wie ein Stoff, den Hände ohne Augen bilden, Spucke
aus einem Mund, der uns komplett einhüllt. Es regnet auf
jede Währung, die am Markt kursiert, auf die
Shopping-Malls, auf jeden Geldschein, durchnässt von
Galle und Schweiß.
(Aus: XXXII. Verlorene Stadt)

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Weitere Veröffentlichung von Adalber Salas Hernández in der Übersetzung von Geraldine Guetiérrez-Wienken und Marcus Roloff bei hochroth Heidelberg.

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Adalber Salas Hernández lebt auf Teneriffa. Spanien ist  Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2022. Es wäre wünschenswert, diesen Gedichtband im Ehrengast-Pavillon vorzufinden.