Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.

Djamschid Khan ist im Jahr 1979 ein junger Kommunist. Er wird von den Schergen der Baath-Partei verhaftet und gefoltert. Seine Kräfte schwinden, doch er widersteht dem Verrat. Er magert ab, so sehr, dass er vor einem weiteren Folterverhör beim Gang über den Gefängnishof in einem unbewachten Moment, als die Wind auffrischt, abhebt und seinen Häschern entweicht. Er fliegt davon.

Die Geschichte, es wird eine schier unglaubliche Abfolge von Davonfliegen und hartem Aufschlagen auf dem Boden der Tatsachen sein, erzählt sein Neffe Salar Khan.

„Als Djamschid 1979 verhaftet wurde, war er siebzehn …“
Ich halte inne. Mir ist bewusst: Wer meinen Onkel nie begegnet ist, wird mir nicht glauben. Wird ihn wie auch mich niemals verstehen.

So endet der Roman und schließt den Kreis zum Anfang des Buches, das mit den Worten beginnt:

Als Djamschid 1979 verhaftet wurde, war er siebzehn. Die Baath-Partei hatte sofort nach Machtübernahme des neu ernannten Präsidenten damit begonnen, die Kommunisten, soeben noch ihre Hauptverbündeten, zu jagen, zu verhaften und zu foltern.

Bei jedem harten Aufschlag verliert Djamschid mal mehr, mal weniger sein Gedächtnis, was ihm ermöglicht, ein neues Leben zu beginnen. Nach erstem Flug und harten Landung dient Djamschid, der leichteste Mann der Welt, als Geheimwaffe (Luftaufklärung) im Irak-Iran-Krieg, erst auf der einen, dann, nach Gefangennahme durch die Iraner, auf der anderen Seite. Er wendet sich nach dem Krieg den Frauen zu, verliebt sich, lässt sich von seiner Ehegattin ausnehmen, verschleudert das Familienvermögen, wendet sich Gott zu und wird Sprachrohr eines Mullahs, wird wegen Gotteslästerung angegriffen, flieht.
Er findet sich in den Freudenhäusern Istanbuls wieder, zieht ein Schleppergeschäft mit Fluchtwilligen in die EU auf, kommt wieder zu Geld und verliert es ebenso schnell. Er findet den Weg zurück in die Heimat, baut eine Nachrichtenagentur auf, naja, er sammelt Informationen, die er zur Erpressung nutzt, schmutzig, aber effektiv. Schließlich wird er als Witzfigur, als Sensation zur Belustigung ausgestellt, weitergereicht und weiterverkauft (darin an den Tsantsa von Jan Koneffke erinnernd). Als Djamschid ein allerletztes Mal durch die Luft entschwindet, setzt sich sein Neffe schließlich an den Schreibtisch und notiert die Geschichte seines Onkels.

Bachtyar Alis Erzählkunst überzeugt auch in diesem Roman. Weltliteratur.

* * *
Ich fürchte, ganz so spannend, ganz so aufregend ist das Leben meines Vaters nicht gewesen, auch wenn er sicher das Fliegen und das hart Aufschlagen gekannt hat. Ich könnte mich ja mal an meinen Schreibtisch setzen …