Adolf Endler: „Das Sandkorn“

Titelschutz

Kurz vor der Druckfreigabe meines neuen Gedichtbands Sandkorn stellte ich überrascht und erschrocken fest, dass es bereits einen Gedichtband gibt, oder mit der Kurzfristigkeit des Buchmarktes gesprochen: gab, der nahezu einen identischen Titel trägt.

Das Sandkorn von Adolf Endler (1930–2009) erschien 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

Nach momentaner Rechtsauffassung erlischt der Titelschutz zwei Jahre, nachdem ein Buch nicht mehr auf dem Markt verfügbar ist. Insofern war der Gebrauch des Wortes Sandkorn unproblematisch, zumal es sehr schwierig ist, kurze, der Allgemeinheit gebräuchliche Worte, mithin Stammvokabeln der deutschen Sprache, schützen zu lassen.

Dennoch blieb (und bleibt) die Frage, ob ich mich bei der Wahl meines Titels nicht verhoben habe. Nicht genug gelesen zu haben, ist eine ungenügende Ausrede, mag ich auch geltend machen, dass ich a) im Westen dieses Landes geboren wurde und b) beim Erscheinen des Buches erst das zarte Alter von neun Jahren erreicht hatte.

Ich suche in Endlers Das Sandkorn auf der sprachlichen Ebene nach Anknüpfungspunkten. Er schreibt:

Erschrick!: Das ist das Sterben!     Zum Herzen fährt die Hand:
Der Tod! Schwarz schreit dein Auge.    Ich bin das Korn aus Sand.
(aus: Das Sandkorn)

Ich schreibe:

Das Große wie das Kleine sehend bin ich
Sandkorn. Bin von der Strömung getrieben.
[…]
Ich falle über die Kante in den zeitlosen Teich.
Der Winkel ist steil, unumkehrbar und tödlich.
(aus: Bachdelta)

Das mag einer der wenigen sprachlichen Analogien der beiden Gedichtbände sein. Und wenn ich das hier herausarbeite, sicher nicht um mich zu erhöhen, mich als Endler ebenbürtig zu verstehen.

Aber irgendwann werde ich auf die Ähnlichkeit der Titel angesprochen werden, vielleicht von Kurt Drawert, der mit Endler 2008 den Rainer-Malkowski-Preis zu gleichen Teilen anerkannt bekam und der, gemeinsam mit Martina Weber, meinen Werdegang zum Literaten in der Darmstädter Textwerkstatt gefördert hat.

Meine Mutter verließ 1958 19-jährig die DDR, Endler 1955 25-jährig die BRD. Während meine Mutter nicht die Möglichkeit bekam, ihren Studienplatz in der DDR anzutreten, weil sie der Familie in den Westen folgte | folgen musste, zog Endler in die DDR und, wie wir heute im Internet lesen können, kam nach anfänglicher Begeisterung für die SED, zunehmend in Konflikt mit der Parteiführung, spätestens durch seine Parteinahme für Wolf Biermann nach dessen Ausbürgerung 1976.

Das Sandkorn ist vor der Ausweisung Biermanns geschrieben und die darin versammelten Gedichte entstammen einem größeren Zeitraum.
Das zeigt uns Endler als einen Dichter, der seine Gedichte sorgsam entwickelt und überarbeitet, bevor er sie der Öffentlichkeit präsentiert.

Der Band ist in drei Abschnitten aufgeteilt. Und allein die Kapitelüberschriften tragen den Anspruch Endlers, Revelanz zu erzeugen, in sich:

Beiträge zur Naturkunde
Ergänzungen zum Geschichtsunterricht
Anmerkungen zur Kulturwissenschaft

Zu jedem Kapitel mein kurzer Blick auf ein Gedicht.

Belehrung

»Wenn wir über die Wiese gehn,
Ist manchmal ein Vogel da,
So einen hast du schon öfter gesehn –
Was sagt das Vögelchen?«

»Krah!«

»Der ist aus Afrika!«

Endler notiert im Sommer 1973 zu seinem abgeschlossenen Manuskript Das Sandkorn:

Vielleicht wird mancher Leser von der aggressiven Fratzenhaftigkeit einiger Gedichte abgestoßen sein, mit der sie auf Spießerhaftigkeit und Mißstände reagieren, aber auch auf eine »Poesie«, die man für geschmackvolle Reiseprospekte verwenden könnte. Mag sein, daß ich im Haß auf diese heftig popularisierte, sehr bequeme Lyrik oft übers Maß hinaus schrill und höhnisch werde. Aber um mit Hölderlin zu sprechen: »An einem schönen Tage läßt sich ja fast jede Sangart hören …«, warum nicht die der Krähe?
(aus dem Klappentext)

Mir fällt bei den Stichworten Belehrung und Vogel wieder die Erschütterung des Kindes in Jochen Schanotta von Georg Seidel ein. Und das führt mich, da ich die Eingangsszene des Stückes schon mal für eine Rezension genutzt habe, zu 1965. Der kurze Sommer der DDR von Gunnar Decker.

Die kurze Schönwetterperiode währt länger als ein Sommer, endet dann aber im Dezember 1965 mit dem 11. ZK-Plenum der SED, genau genommen in der administrativen Nacharbeit um den Jahreswechsel durch Erich Honecker, der damit die Entmachtung Ulbrichts vom 3. Mai 1971 vorwegnimmt.

Die Entstehung von Endlers Gedichten fällt genau in diese Übergangsphase. Die ältesten Gedichte sind aus dem Jahr 1963, mit Ausnahme von Epitaph für einen Schönfärber 1956 (Fragment) von 1956/1966 und Ein Lebenslauf von 1957/1965. Die jüngsten sind von 1973.

In Santiago, dem jüngst geschriebenen Gedicht des Bandes, schreibt Endler:

Ich hefte den Durchschlag dieser Notiz
in all meine Mappen
Bei jeder Arbeit muß ich sie
wiederfinden

Die Erschütterung über den Inhalt der Notiz ist so groß, dass sie zwei Strophen (Kata-Strophen) des Gedichtes füllt.

Sie mußten sich auf den Boden
des Stadions legen
Arbeiter
Schubkarrn mit Steinen gefüllte
Rollte man über sie weg
Proletarier
Um ihnen das Rückgrat zu brechen
Über sie weg

Unschwer lässt sich die Bestialität des Pinochet-Regimes aus diesen Zeilen herauslesen.  Das Estadio Nacional de Chile diente drei Monate als Konzentrationslager für politische Gefangene, nachdem Pinochet am 11. September 1973 geputscht hatte.

[Ein 11. September, an dem nicht weltweit der Opfer gedacht wird.]

Mit dieser Notiz, die Endler bei jeder Arbeit wiederfinden muss, versichert er sich, auf der Seite der Proletarier zu stehen und trotz zunehmender Kritik an den Zuständen in der DDR im Arbeiter- und Bauernstaat eine Heimat gefunden zu haben. Er will sich das Rückgrat nicht brechen lassen. Und doch: Er weiß, dass auch in der DDR Rückgrate gebrochen werden.

1966 hatte Endler gemeinsam mit Elke Erb, seiner späteren zweiten Frau, und Karl Mickel die Anthologie In diesem besseren Land. Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945 herausgegeben.
[Vorbemerkung und Klappentext]

In Die düstere Legende vom Karl Mickel spricht Endler vom Künstler, der in Ungnade fällt.

Auch der Hohe Rat hat ihn mit Macht gescholten:
Seine sittenlosen Schriften treff den Bann!
Drei Doktoren unsrer Alma mater rollten
Jenen Pfahl zum Markt: Reicht her den Mann!

Was immer Anlass war, dieses Gedicht 1967 zu schreiben, der Titel bleibt bestehen und die Düsternis, die erst nach der Wende 1989 in ein anderes Licht rückte:

Karl Mickel arbeitete ab 1987 für die Staatssicherheit der DDR, indem er im Zusammenspiel mit den zuständigen Stasioffizieren die DDR-Gegnerschaft junger Autoren abzuschwächen versuchte und Stasistrategien im Schriftstellerverband umsetzte. Sein Führungsoffizier war mit den Einsätzen sehr zufrieden. Beendet wurde diese Arbeit durch das Ende der DDR, ansonsten hätte sie sich vermutlich über weitere Jahre fortgesetzt.


aus: Zum Doppelleben des Dichters Karl Mickel. Wie aus In- und Auslandsagenten „hochgelehrte Käuze“ werden
in:
Zeitschrift des Forschungsverbunds SED-Staat, ZdF 39/2016

Endlers in der Berliner Zeitung vom 3.10.1996 getätigte Feststellung, wenigstens sei es der Stasi nie gelungen, einen der 19 Protagonisten der „Sächsischen Dichterschule“ anzuheuern, hat sich als nicht haltbar herausgestellt.

2008 wurde die Mickel-Akte rekonstruiert, 2009 starb Endler.

„Ich war immer sehr unglücklich. Ich habe eigentlich mein Leben bis ungefähr zu meinem vierzigsten Lebensjahr als Hölle empfunden, auch in der DDR, ähnlich wie Hilbig, der es auf andere Weise artikuliert hat. Ich habe das Leben als Hölle empfunden. Nun die DDR auf spezielle Weise, dieser tägliche Kleinkrieg, der da geführt wurde um zwei Zeilen Gedicht oder was auch immer, hatte noch ein paar Besonderheiten, die der Schreiber im Westen nicht hat.“

aus: Märchenhaft leicht, treffend genau von Nadja Küchenmeister

Dass sich in der DDR fünfhundert Schriftsteller als Spitzel anwerben ließen, das wollte er [Adolf Endler] ihnen nie verzeihen.

aus: Der Prenzlauer Bergarbeiter von Falko Hennig

Die düstere Legende vom Karl Mickel, sie wirkt bis in die Gegenwart.