Jean-Philippe Toussaint: „Das Verschwinden der Landschaft“

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22-03-2016

Die Geschichte, die Jean-Philippe Toussaint (* 1957 in Brüssel) in Das Verschwinden der Landschaft erzählt (deutsche Übersetzung: Joachim Unseld), ist kurz und der Inhalt in wenigen Sätzen wiedergegeben.

Ein Mann sitzt unbeweglich im Rollstuhl in einem Haus mit Meeresblick. Durch eine Baumaßnahme wird die Sicht verbaut, die Landschaft verschwindet und dem Mann geht die Kraft aus, sich an die Ereignisse zu erinnern, die ihn in diese ausweglose Situation geführt haben.

So beginnt sich allmählich in meinem Kopf der Verdacht festzusetzen, dass die Wirklichkeit, die ich seit vielen Wochen in dieser Wohnung in Ostende erlebe, eine Fiktion ist, oder zumindest ein Hirngespinst, eine Metapher für das Drama, das mich zunächst körperlich gebrochen hat, bevor es meine geistigen Fähigkeiten angriff, die sich in der Dunkelheit dieses Zimmers nach und nach vernebelt haben und dann allmählich ausgelöscht wurden, und dass es, wenn es nicht wirklich eine Metapher ist, dann eine Nachwirkung, ein Rückprall, die Folge selbst des Dramas, dem ich zum Opfer gefallen bin, und dass ich in Wahrheit bereits tot bin […]

Toussaint bearbeitet in diesem Text das nationale und europäische Trauma der Terroranschläge vom 22. März 2016 in Brüssel und hebt die Grenze zwischen den Getöteten und den Verletzten auf: Auch diese sind schon längst gestorben. Mögen sie in einem Rollstuhl sitzen, ihr Leben wurde vor langer Zeit mit Gewalt ausgelöscht.

Die oben genannten Namen der Gestorbenen beziehen sich auf den Anschlagsort U-Bahn-Station Maalbeek/Maelbeek, wo es um 9:11 Uhr in einem haltenden Metrozug zu einer Explosion kam.

Wenngleich Toussaint anfänglich über seine Figur schreibt, er könne sich nur unzureichend an die Geschehnisse, das Drama, erinnern, führen uns die Erinnerungen des Ich-Erzählers eindeutig zu diesem Anschlagsort. Und er weiß, er ist

[…] am Tag des Attentats an Ort und Stelle gestorben […]

Das entspricht der Leidensgeschichte Ibrahim Akkus‘, eines der Opfer der Anschläge von Hanau vom 19.02.20. Er bringt es auf die Formel:
Meine beiden Beine sind weg. Ich bin ein toter Mann.

Toussaints Prosa ist in dieser Geschichte von Kargheit gekennzeichnet. Die Sätze sind eher einfach gehalten. Ein aus dem Titel abgeleitetes Interesse an der Landschaft, als Raum für Bewegung und Licht, als Spielraum für das menschliche Daseins, ist im Grunde nicht (mehr) vorhanden. Der Ich-Erzähler starrt aus dem Fenster, in den Bilderrahmen eines Gemäldes hinein, das sich zunehmend verschattet, verdunkelt.

Dieser Sprachstil, der weitgehend auf Verzierungen verzichtet, will die graue Realität des Protagonisten aufzeigen. Gemeinsam mit der Kürze des Textes birgt das die Gefahr, eine entscheidende Stelle, vielleicht die entscheidende Stelle des Textes zu überlesen.

Der Ich-Erzähler beobachtet, wie Menschen auf einem Flachdach zusammenstehen.

Mit seinem gelben Helm und dem eleganten Kaschmirmantel beginnt er, den Horizont zu betrachten. Wir befinden uns gegenüber, weniger als dreißig Meter trennen uns, er kann meine Gegenwart hinter dem Fenster nicht übersehen haben. Ich habe den Eindruck, dass er mich beobachtet. Er wirft mir einen teilnahmslosen Blick zu und geht, ohne sich weiter aufzuhalten, wieder zu seinen Kollegen zurück, nimmt seinen Platz in der Gruppe wieder ein.

Hier hält uns Toussaint den Spiegel vor: Es mangelt uns an Empathie für die Opfer der Terroranschläge. Wir verhalten uns teilnahmslos, als könnten wir ausblenden, dass auch wir Opfer hätten sein können. Wir sind deren Sargnagel.

Say their names!