Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

Beim Schreiben notiert Braun bereits Anweisungen, wie der Text zu sprechen ist, Beispiel: (Da capo). (Trommeln, ad. lib.: G. Baby Sommer) belegt hingegen eindeutig Brauns Absicht, mit diesem Musiker zusammenzuarbeiten. Er gibt ihm schon mal freie Hand. Sicher sind diese ersten Ideen später verfeinert und schließlich professionell umgesetzt worden.

Die Aufführung fand am 09.03.2022 im Plenarsaal der Akademie der Künste (AdK) Berlin statt und kann online besucht werden.

Dass Braun im Publikum sitzt und beim Schlussapplaus mit auf die Bühne kommt, ist für mich ein weiterer Beleg, dass der Text seine Wirkung erst mit der Performance erfüllen sollte.

 

II

Der Umzug des Luf-Bootes von Dahlem ins Humboldt-Forum war eine aufwändige Angelegenheit.

Wenn ich in meinen Erinnerungen aus den siebziger Jahren zurückgehe in die Südseeabteilung in Dahlem, habe ich ein warmes Gefühl. Das lag sicher einerseits an der Präsentation der Boote dort (dunkle Wände, goldgelbes Licht), andererseits an meiner völligen Ahnungslosigkeit der Verbrechen, die im Namen der deutsche Kolonialmacht an der indigenen Bevölkerung verübt wurden. Dieses Jahr konnte ich eine kalte Präsentation des Luf-Bootes im Humboldt-Forum vor grau gehaltenen Wänden erleben.

Sind wir weitergekommen? Oder verhält sich unsere Empathie entsprechend der Farbgebung der Wände, Böden, Decken, die das Boot in einem dichten Kasten vor dem Wasser verschließen?

 

III

Erst spätabends, gegen 20 Uhr,  ließ Schwanebach die Patrouille halten und absitzen. Der landeskundliche Unteroffizier, ein Bayer aus Plattling namens Rattenhuber, empfahl, in dieser Gegend kein Feuer zu machen und sich möglichst leise zu verhalten, da in dieser baumlos flachen Gegend jedes Wort kilometerweit zu hören sei. Gottschalk aß etwas von dem Schiffszwieback. Das Krachen und Knabbern kam ihm plötzlich beängstigend laut vor.

(aus: Morenga von Uwe Timm)

Unzweifelhaft hat Timms Roman von 1978 einen wichtigen Beitrag geleistet, eine Bewertung der Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia als Völkermord vorzunehmen. Und doch, so schnell damals geschossen wurde, so langsam kriechen wir heute immer noch schneckengleich in Richtung Anerkennung des Unrechts, Entschädigung und Restitution, ob in Namibia oder Papua-Neuguinea.

 

IV

Menschen nutzen ihre Muttersprache, um sich auszudrücken. Auf Luf wurde Hermit gesprochen. In der deutschen Sprache gibt es keinen geregelten Sprachnamen für diese ozeanische Sprache, die (wahrscheinlich) ausgestorben ist und durch Seimat ersetzt wurde. Nicht einmal ist bekannt, wann diese Sprache vom Globus verschwunden ist. Die Deutschen waren jedenfalls daran beteiligt.

Tätersprache:

Nachdem sie uns vor Luf zu Gesicht
bekommen hatten, unsere Art, erlosch
ganz ihr Lebenswille, und was wie Hoffnungs-
losigkeit malte sich auf ihre Mienen. Sie
haben unterschrieben freiwillig: KEINE
KINDER MEHR ZU BEKOMMEN, und
beschlossen AUSZUSTERBEN.
(aus: Untergangssaga)

Wenn, wie Braun es in seiner Textcollage macht, Perspektivwechsel vorkommen und aus indigener Sicht gesprochen wird, kann das die Sprache der Täter überhaupt leisten?

Augenfällig wird diese Schwierigkeit beim polynesischen Konzept des Tapu, das den Europäern schlichtweg unbekannt war. Ist es für irgendjemand tröstlich, dass das Wort Eingang gefunden hat in unseren Sprachgebrauch?

Opferperspektive in Tätersprache:

Wir sahen die Eisenschiffe. Der Häuptling
Levinan legte einen Stock umwickelt
mit Palmblättern und Riedgras
quer über den Weg, den sie meiden
sollen und die Bäume, welche uns
heilig sind. Ihnen aber war nichts tabu.
(aus: Messtischblatt)

Hier hilft auch eine weitere Tätersprache nicht weiter.
Die Übersetzungen von Brauns Text hat Ann Cotten (* 1982) erstellt.

We saw the iron ships. Our elder
Levinan laid a stick wrapped with palm
leaves and reeds across the path
they should avoid and the trees
that are holy to us. But they had no understanding of tabú.
(from: Dining Deck)

Cotten erinnert mit der Schreibweise tabú (statt gebräuchlicher: taboo) an den Ursprung des Wortes, das hebt aber das Paradox, die Opferperspektive durch die Tätersprache auszudrücken, nicht auf.

 

V

Wir befinden uns in der UN-Dekade der indigenen Sprachen. Die Menschenrechts- und Umweltaktivistin Sônia Guajajara gibt in der Zeitschrift Vereinte Nationen 04/2021 kurz Auskunft über die Ziele.

Sie schreibt:

Einst war es uns Indigenen verboten, unsere Sprachen zu
sprechen. Während der Kolonisierung wurden diejenigen be-
straft, die ihre Sprachen bewahren wollten. Viele dieser Spra-
chen sind nun für immer verloren. Die Sprache eines Volkes
auszulöschen ist wie ein Epistemizid – das Weltbild, die Ideen
und die Kultur der Menschen werden ausgelöscht.

[„Epistemizid“ nennt der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos das systematische Auslöschen von Wissen, das als „nicht gültig“, also nicht bedeutend oder nicht relevant, angesehen wird. Nur das Wissen, das nach den Kriterien der weißen, bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung geschaffen wurde, gilt als wissenschaftlich. Der Epistemizid – und die damit einhergehende Diskreditierung nicht-westlichen bzw. nicht-weißen Wissens – begann mit der Kolonisierung und dauert bis heute an. Siehe Glossar Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V.]

Ich muss mich fragen lassen, ob es mir bei meiner Recherche für die Künstlerin Vera Röhm gelingt, indigenes Wissen (über Sprache) festzuhalten, wenn es darum geht, einen Satz, der sich aus dem Weltbild einer weißen, bürgerlichen Gesellschaft nährt, in alle Sprachen der Welt übersetzen zu lassen.

Eine der schärfsten Antworten, die ich auf meine Anfrage, den Satz Die Nacht ist der Schatten der Erde zu übersetzen, erhielt, lautet (in meine Sprache übersetzt):

Diese Anfragen sind ausbeuterisch und kommen weder den Gemeinschaften noch der Person zugute, von der sie gestellt werden. Übersetzen ist eine wertvolle Fähigkeit, die einen Ausgleich verdient. Bitte nehmen Sie dies als Lernchance und machen Sie es in Zukunft besser, oder bitten Sie indigene Völker/Gemeinschaften einfach nicht um diese Art von Arbeit, da dieses Projekt für sie keine Bedeutung hat.

Halten wir fest, wir haben nicht nur Boote demontiert. Beim Erhalt der Reste, beim mühsamen Wiederaufbau ist die weiße Gesellschaft nicht immer gefragt, weil wir nicht den Nachweis erbracht haben, auf Augenhöhe zu agieren und gleiche Interessen zu vertreten.

Heute beginnt die Konferenz Where Do We NeedTo Go From Here? Language Documentation and Archiving during the Decade of Indigenous Languages, zunächst in online-Sessions, dann in Berlin in Präsenz. Es geht um nichts weniger, als die Erosion indigenen Wissens durch Erforschung und Dokumentierung der Sprachen zu verlangsamen.


VI

Wo die Performance dem Text Raum gibt für Gesang und Musik, eröffnet das Buch die Möglichkeit der Begegnung mit Kunst. Die Bild-Collagen sind vom Grafikdesigner Thomas Walther, Dresden, Berufsverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) gestaltet.

Auch er kommt aus einem Dilemma nicht heraus. Mit der Verwendung von Fotos, die Menschen abbilden, welche, davon können wir angesichts der Machtverhältnisse ausgehen, ihr Einverständnis zur Fotografie nicht gegeben haben, verlängert sich das Unrecht. Reicht es aus, rote Farbe in Form von Blutspritzern oder Schlieren über die Porträts zu legen oder weiße (blinde?) Flecken, wenn gleichzeitig juristisch einwandfrei der Fotonachweis geführt wird, der meist in europäischen Museen und Sammlungen endet. Und also von der Identität der Abgebildeten abgeschnitten ist.

[Vgl. Rezension Jan Koneffke Die Tsantsa-Memoiren, unterer Teil: Facial masks, racial masks? 42 questions to Rijksmuseum Amsterdam]

VII

Cotten bringt den Text Brauns ins Englische. Auch diese Zusammenarbeit dürfte sich bereits früh angebahnt haben, denn wenn Braun schreibt

Wir haben nur eine Welt, und
Sie gehört uns nicht – – deshalb
Muß sich ändern, wie wir über sie sprechen
Und denken. Was ich meine, ist nur eine Bitte
Einen Schmerz zu teilen – – Wir
Müssen aufhören aufhören
Auf Nacken von andern zu knien
Die nicht atmen können.
(aus: Restitution)

so handelt es sich hier um eine Kompilation. Ich lasse das Wort so mal stehen [compīlāre = ‘ausplündern, berauben, ausbeuten’, eigentlich ‘zusammenraffen, stehlen’, vgl. https://www.dwds.de/wb/Kompilation]. Es ist eine Kompilation von Worten aus „Unbeantwortbar. Das üben wir?!“ − Video-Lesung von Ann Cotten vom 09.06.21.

Innerhalb der Textcollage nennt Braun seine Quellen ohne wissenschaftliche Genauigkeit. Das ist ihm als Dichter erlaubt. Wir finden in Restitution die Angabe (Ann Cotten), ohne genau zu wissen, welche Teile von ihr stammen.

Mir ist völlig unklar, wieso Cotten in der englischen Übersetzung (ihrer eigenen Worte) dazu kommt, dem Text Restitution zwei zusätzliche Zeilen mitzugeben.

lay down your inherite leverage
respect heritage

Das ist mir eine Nachfrage über die Kommunikationsagentur, die den Verlag vertritt, wert. Das ist keine Petitesse.

Mir drängt sich der Verdacht auf, hier sollte eine Botschaft gesendet werden. Aber wozu? Luf-Passion von Braun und insbesondere der letzte Abschnitt von Restitution (Braun | Cotten) sind klar in ihrer Aussage. Mit dem sinnlosen Gewaltverbrechen an Georg Floyd zu enden, ist stark. Hier noch etwas draufzusetzen, ist es nicht. Ich sehe eine Entwertung der Sprache. Das Vertrauen in die Wirkung der Worte geht dort verloren, wo Imperative in abgesetzten letzten Zeilen auftauchen.

Der Verleger Michael Faber schreibt:
In gewisser Weise übernimmt Ann Cotten dort den Part der Co-Autorenschaft und bewegt sich aus der reinen Tätigkeit der Übersetzung hinaus. Das ist gewollt. Es gibt einen Anstoß und es gibt eine Reaktion. Cotten ist quasi die erste Leserin, die den Text von Braun schon kommentiert. Autorin, Autor und Verlag waren gemeinsam zu der Anschauung gekommen, dass die Aufgabe der kritischen Aufarbeitung des Kolonialismus keine ist, die einzelne Nationen vollziehen, sondern sie ist ein globale. Und die Zweisprachigkeit dieser Passion sollte das zum Ausdruck bringen.