Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

Nowrousian hat ihre Gedichte in umgekehrter Reihenfolge im Buch angeordnet. Hinten beginnt es mit der Nummer eins (Neringa Eins und Wilna Eins) und endet, nahe beim Kater, dessen mürrischer Blick, so ausgetrickst, ich nun natürlich verstehe, in der zweiten Serie Wilna-Worte mit Nummer Achtundzwanzig.

Nowrousian lebte von 2014 bis 2017 in der litauischen Hauptstadt, deutsch Wilna, polnisch Wilno, belarussisch Вільня (Wilnja), jiddisch ווילנע (Wilne), russisch Вильнюс (Wilnjus) und litauisch Vilnius.

Das Aufrufen von Mehrsprachigkeit passt zu Nowrousians Leben und Werk. Mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen (die Vatersprache Persisch spricht sie nicht, hörte aber ihren Klang, ihre Musikalität) hat sie sich Französisch als zweite Sprache angeeignet, in der sie sich beheimatet fühlt.
Sie arbeitet neben anderenTätigkeiten als Übersetzerin aus dem Englischen, dem Französischen und weiteren romanischen Sprachen. Als Beispiel sei auf Aurélia Lassaque verwiesen.

Und auch Wilna-Worte sind mehrsprachig gestaltet, Nowrousian schreibt einige Texte auf Französisch und Englisch. Für die Übersetzungen ins Litauische war aber doch eine Muttersprachlerin notwendig, auch wenn uns Nowrousian in ihren Gedichten mit der litauische Sprache bekannt macht und uns einzelne Wörter dieser Sprache anreicht.

Das Murmeln des Litauischen beglückt mich sehr.
Litauisch nämlich lässt sich, so wird mir schlagartig
klar, fantastisch gut murmeln. Es klackert dabei wie
Murmeln selbst und kullert wie Kiesel, wie kleine
Steine, die sachte aneinanderschlagen.
(aus: Wilna Dreiundzwanzig)

Die Gedichte der Wilna-Worte sind eine Liebeserklärung an eine Stadt, ihren Menschen  … und ihren Katzen. Und sie ist vielstimmig im Tonfall, mal leicht und mit viel Humor, mal ernst, manchmal pathetisch oder aber leise.

Ich denke, das ist eine gelungene Bewerbung für eine dauerhaft feste (Fern-)Beziehung. Folgerichtig ist, dass sie nun in Koedition mit Hieronymus Verlag in Vilnius bei Schiler & Mücke erschienen ist.

Mit Gedichten, die sich Stadtlandschaften widmen, habe ich, obwohl ich in Städten lebe, meine Schwierigkeiten. Ich kann es mir nicht erklären. Mit Landschaften außerhalb der Städte komme ich zumeist besser zurecht.

Ich verstehe Nowrousians Eloge auf Vilnius als Würdigung eines Raumes, an dem man Luft bekommt. Gerade in der Nicht-Perfektion, im Verfall liegt die Schönheit, und erinnert uns daran, wie weit andere europäische Länder, unsere Nachbarn, von deutscher Saturiertheit entfernt liegen. Erinnert uns daran, wie wenig man braucht, um zufrieden zu sein, um Glück, jenseits materiellen Besitzes, empfinden zu können. Einige Beispiele:

… Trottoirs und
Terrains, alles haucht hier, alles singt
leise in sich hinein, und ich blicke
mich um, die Kälte zaubert sich
in die Körper, beschleicht die dick
eingepackten Gedanken, ich liebe die
müden Steine, die ausgehauenen Brocken
und die Kerben und finsteren Winkel und den
Anfang des Lichts. …
(aus: Wilna Zwei)

Eine schmale Katze in einem der tiefen Hofzugänge, in
denen verrostete, mit Graffiti
und alten, halb abgekratzten Aufklebern überzogene,
völlig verbeulte Brief- und Stromkästen
an den Wänden hängen und in den Nischen stehen …
(aus: Wilna Fünf)

Das ist das Schönste: durch Höfe streifen,
durch Höfe und durch kleinste Gassen,
unermüdliches Stromern durch die wahren
Adern der Stadt, den Fächer ihrer Eingeweide,
im Netz ihrer Verbindungslinien, treibend zwischen
Höfen, Straßen, Treppen, Passerellen und Plätzen,
Verflechtungsspuren von innen her.

Pforten öffnen, die ihre besten Tage hinter sich haben
und gerade deshalb das Beste bereithalten,
den ausgetretenen Pfad im Matsch, die Spur der wahrhaft
Eingeweihten
(aus: Wilna Zweiundzwanzig – Ein Lied den Höfen)

Es ist unmöglich vor dieser Kulisse, nicht in die Vergangenheit zu schauen. Derer zu gedenken, die nicht mehr sind, deren Kultur ausgelöscht.

„Vilne, Vilne, undzer heymshtot.
Undzer benkshaft un bager.“
Tiefste und unermessliche Bitternis und Traurigkeit
beschleichen Herz und Hirn, auf immer:
das Nichthinnehmbare dennoch anzunehmen,
all der geraubten Leben zu gedenken, unermüdlich, die
hier in Liebe glühten. Wie auch wir.
(Wilna Fünfzehn)

Es lässt sich vieles entdecken auf den Streifzügen der Autorin durch ihre Stadt. Möglicherweise sehen auch die Einwohner*innen von Vilnius ihre Stadt anders durch Nowrousians Blickwinkel. Wie werden die Reaktionen auf die litauischen Übersetzungen ausfallen, werden die deutschen Fassungen die Nische verlassen können, die wir als Industrienation nach Verwertbarkeit fragend, verlangend den baltischen Staaten zubilligen?

Ich wende mich ab von der Stadt und gehe in die Landschaft. Hier fühle ich mich sicher, gut aufgehoben und erinnert:

Man muß mit der Beschreibung des Landes der Seen beginnen, wo Thomas wohnte. Diese Gegenden Europas sind lange von Eisbergen bedeckt gewesen, und ihre Landschaft hat die Strenge des Nordens. Der Erdboden ist hier im allgemeinen sandig und steinig, nur für den Anbau von Kartoffeln, Korn, Hafer und Flachs geeignet. Das erklärt, warum der Mensch die Wälder nicht vernichtet hatte, die das Klima mildern und vor den Winden des Baltischen Meeres schützen.“
(Exposition Czesław Miłosz: „Tal der Issa“, aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg)

Nowrousian schreibt:

Am Horizont meiner Synapsen
schimmert ein überdimensioniertes
Sandkorn, in Bernstein eingefasst,
von ihm geschluckt, umschlossen,
auf dem ein Elch sich ganz
allmählich auf Wanderschaft begibt,
auf Kornumwanderung, zurück in
die Zeit der Wanderdünen, durch
duftende Wälder, zwischen uralten,
sehr hohen Kiefern hindurch,
an Rehen vorbei, und Füchsen, die
die Köpfe heben, umflossen vom
schillernden Licht des angespülten
Goldes …
(aus: Neringa Eins)