Michelle Cahill: „Vishvarūpa“

Michel Cahill: Vishvarūpa

Vishvarūpa der 1969 in Kenia geborenen, australisch-indischen Autorin Michelle Cahill erschien 2011. Die Printausgabe ist nahezu vergriffen. Über die befreundete Lyrikerin Debbie Lim fand das Buch von booktopia in Lidcombe, dem Stadtteil Sydneys, das den Olympiapark von 2000 beherbergt, den langen Postweg nach Deutschland.

Cahill kam nach der Grundschulzeit in London mit der Familie nach Australien. Sie lebt in Sydney, hat für ihre Poesie mehrere Preise erhalten und ist Herausgeberin des Mascara Literary Review.

In Vishvarūpa spürt sie ihren indischen Wurzeln nach, in dem sie hinduistischen Göttern und Göttinnen begegnet, auf Reisen oder im australischen Alltag.

Ich muss gestehen, nicht jedes Gedicht ist für mich zugänglich. Das liegt zum einem an meinen dann doch unzureichenden Englischkenntnissen, zum anderen an den Schreibarten einer religiösen Tradition, die mir trotz Interesse fremd bleibt. Am Ende des Bandes sind Erläuterungen eingefügt, die einige Begriffe und Zusammenhänge der Gedichte erklären.

Der Band ist umfangreicher als der Umfang von etwa 90 Seiten vermuten lässt. Das liegt an einer welthaltig zu nennenden Verlinkung von Tradition und Moderne. Einer Moderne, die die Frau emanzipiert erlebt und die Tradition in Frage stellt.

Für mich greifbar wird dies im Gedicht Pārvatī in Darlinghurst, das ich versucht habe, in meine Sprache zu übertragen.

Ein Stadtteil Sydneys, ein Hotelzimmer und ein Akt von Shiva, dem hinduistischen Gott der Zerstörung und Wiedererschaffung des Lebens, und Pārvatī, seiner Ehefrau, hochverehrte Muttergöttin, nicht nur Shakti des Gottes, sondern autonome, weibliche Kraft. Eine Absage an die Rolle der Mutter und Hausfrau, eine Absage an Unterwerfung.

 

Pārvatī in Darlinghurst

So lag ich auf Shivas bleichem Körper. Er sprach
kein Wort, vielleicht beunruhigt von meiner nussbraunen
Haut; mein langsamer Tanz beruhigte seinen Electro Shuffle.
Ein Schlag der Gliedmaßen presste ihn auf meinen Erdboden.
Ich hatte nicht in Sandelholz gebadet, der Legende spotten
mit einer Vorliebe für Estée Lauder. Die Mondsichel
brachte meine Haare durcheinander, meine Brüste nackt,
wir kamen gleichzeitig. Nacht zischte, verschwand
im Tag, die hypnotischen Rhythmen der Clubs gedämpft.
Wir verschmähen die Purānas, unser Stelldichein keine Himalaya-
höhle, sondern ein Hotelbett drappiert mit Strümpfen,
Unterwäsche und dem kristallinen Eis eines Dritten Auges. Ich gebe zu,
aus diesem Grund sprach ich mit der Geschwindigkeit einer Antilope.
Es scheint, die Acharyas wurden in die falsche Richtung geleitet: Ich hatte
kein Date für eine Vermählung oder einen Ehebruch; noch den Wunsch,
sein Haus mit Blumen zu schmücken oder seine Böden zu wischen.
Ich bin zu beschäftigt, erklärte ich, für Tändelei oder gegenstandlosen
Klatsch. Ich habe kein Interesse an Honigbienen und Vögeln.
Alles was ich wollte, war eine gute Zeit. Ich schwor beim Fluss,
der meine Schwester ist, dieser Kerl war nicht meine Sonne, mein Himmel.
Es kam mir niemals in den Sinn, seine Kinder zu haben.
Die Asche seiner ersten Frau ist überall in der Stadt verstreut.
Gottverdammt, Shiva ist eine wandelnde Katastrophe, was immer
er berührt, verbrennt. Mit Handschellen ihn zurückhaltend
sagte ich: „Vergess es Süßer, dein Lingam und meine Yoni
sind nur für eine Sache gemacht, ungehörig und verdorben.
Wenig mehr als eine Mutmußung zu denken unser schwitzende
Spirale könnte jemals das Ganze sein“. Dann bot ich ihm, sich
verrückt zu wetzen und zu wirbeln, unser Bedürfnis in der Schwebe haltend,
und mit dieser neuen Bedeutung fiel er völlig ins Schweigen.