Verónica Gerber Bicecci: „Leere Menge“

Und wo sind die Scherben?
Über die Umdeutung einer gemeinsamen Schnittmenge.

Die vom deutschen Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) begründete Mengenlehre schaffte es in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts als Schulstoff in meine Grundschule, die im Volksmund gemeinhin Volksschule genannt wurde (ein Ausdruck, der weit in die deutsche Geschichte reicht und nach Schnittmenge, Differenz und Komplement verschiedener Systeme fragt: Kaiserreich, Weimarer Republik, das Dritte Reich, das getrennte Deutschland).

Ich erinnere mich noch an den Aufschrei meiner Mutter, die sich mit anderen zusammentat, um gegen diesen unverständlichen Unterrichtsstoff zu protestieren. Muss ich erwähnen, dass dies im Westen des Landes geschah?
Muss ich mutmaßen, dass sie die Klappe gehalten hätte, wäre sie im Osten des Landes geblieben?

Ach Mama, jetzt bist du fast ein Jahr tot und ich lese und bespreche ein Buch, das die Mengenleere auf Gefühlslagen anwendet. Du fragst nach?

Leere Menge ist von der mexikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Verónica Gerber Bicecci (* 1981 in Mexiko) geschrieben und mit Zeichnungen (Diagrammen) versehen. Die Übersetzung aus dem mexikanischen Spanisch stammt von Birgit Weilguny (* 1980).

Es existiert zwar kaum ein Beleg dafür, doch während der Militätdiktatur war es in Argentinien verboten, die Mengenlehre in der Schule zu unterrichten. Wir wissen zum Beispiel, dass eine Tomate zur Menge der Tomaten(TO) gehört und nicht zur Menge der Zwiebeln(Z), der Chilis(CH) oder des Korianders(K). Was daran gefährlich ist? Die Mengenlehre könnten die Tomaten, Zwiebeln und Chilis auf die Idee bringen, dass sie zwar verschiedene Lebensmittel sind, aber auch einiges gemeinsam haben, zum Beispiel die Tatsache, dass sie alle zur Menge Pico-de-Gallo-Salsa(PDGS) gehören könnten, und zugleich auch zum Universum der Nutzpflanzen(NU), oder sie könnten sich vielleicht gegen eine andere Menge oder ein anderes Universum verbünden, zum Beispiel das der Chili-Salsa(CHS). Kurz gesagt, sich als Gemüse zu vergemeinschaften. Venn-Diagramme sind Werkzeuge für die Logik der Mengenlehre. Und vom Standpunkt der Mengenlehre ergibt die Diktatur wenig Sinn, weil sie in hohem Maße auf Vereinzelung setzt: Separieren, Trennen, Zerstreuen,  Verschwindenlassen.

Stimmt, damit wollte ich die Besprechung beginnen, den Desaparecidos und den mutigen Madres de Plaza de la Mayo, die bis heute gegen das Verschwindenlassen in Argentinien und diese weltweit angewandte Methode staatlichen Terrors protestieren. Vorgestern fand der Marsch Nummer 2324 statt. Die alten Frauen, Kämpferinnen der ersten Stunde, sitzen im Rollstuhl, dennoch die Kraft der Kopftücher ist geblieben. Weiße Kopftücher, diese Schnittmenge der argentinischen Gesellschaft, drohten für die Militärs zur Gefahr zu werden.

Manchmal beschlich uns der Gedanke, dass Mamas Geschichte eher Sinn ergäbe, wenn wir einen Ort wie die Plaza de Mayo hätten, an dem wir fordern könnten, dass man sie uns zurückgibt, an dem wir fragen könnten: Wo bist du?

Gerber Bicecci hat mit ihrem Ausflug in die Welt der Nutzpflanzen präzise erklärt, worin diese Gefahr für die Militärdiktatur bestand. Bei ihrer Reise nach Argentinien besucht Verónica, die Ich-Erzählerin Ich(I), den Perito-Moreno-Gletscher.

Ich konnte nicht anders, ich fragte mich sofort, ob irgendwo in diesen gigantischen Eismassen auch Verschwundene verborgen sind, die eines Tages durch die Klimaerwärmung zum Vorschein kommen werden.

Jeder Versuch, Ordnung zu schaffen, ist im Grunde von vornherein zum Scheitern verurteilt. Um was geht es eigentlich in Leere Menge?

In der zweiten Auflage des Buches von 2021 hat Gerber Bicecci ein Nachwort angefügt, in dem sie Auskunft erteilt:

„Ich möchte einen Roman(?) schreiben, dem die Worte ausgehen“, lese ich in der Beschreibung meines Vorhabens […] „Dabei soll die geschriebene Sprache mit fortschreitender Handlung mehr und mehr zerfallen. Zunächst auf einfache Weise: immer kürzere Absätze, immer kompaktere Kapitel; später: durch den Einsatz von unlesbaren Schriften, Dysgraphien, erfundene Sprachen.“ Da es in der Literatur schwierig ist, sich der hegemonialen Macht des geschrieben Wortes zu entziehen, habe ich die bildende Kunst und die Wissenschaft zu Hilfe genommen und versucht, eine Reihe von zusammenhängenden Passagen zu schreiben, die formal auf Diagrammen basieren.

Es geht, ich versuche es mit meinen eigenen Worten, um die langanhaltenden Nachwirkungen eines Lebens in bzw. einer Flucht vor dem Militärregime in Argentinien (1976-1983). Eine Flucht nach Mexiko, wo die nächste Generation im Exil, in der Fremde, in der Entfremdung aufwächt und zu Veronica, Ich(I), und ihrem Bruder(B) wird. Es geht um eine wie auch immer geartete Abwesenheit der Mutter.

Zwei Universen(U)

Oder besser gesagt zwei Länder:
Argentinien(L1)
Mexiko(L2)
und Mama(M)
Vielleicht können wir lernen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein.
Mama(M) hat es geschafft, genau in der Mitte zu landen, an einem Ort, an dem niemand sie findet.

Es geht um eine Beziehungslosigkeit, die Veronicas Ich(I) nicht ermöglicht, dauerhaft in Beziehungen zu leben. Sie kann diese nicht zu Ende bringen, seßhaft werden. Sie fängt immer wieder neu an. Und spürt eine Leere in sich.

Die Exposition:

Das Verzeichnis meiner Liebesbeziehungen ist eine Sammlung von Anfängen. Eine definitiv unvollendete Landschaft voller überfluteter Gräben, freiliegender Fundamente und bröckelndem Mauerwerk, eine innere Nekropole, die sich seit ich(I) denken kann in der ersten Bauphase befindet.

Oder formelhaft:

Es war einmal eine Schnittmenge IT.
Plötzlich taucht anstelle der Schnittmenge eine Leere auf.
In Wirklichkeit ist die Leere das Syptom einer Schnittmenge TS, die von I nicht gesehen wird.
T entfernt sich mit S, und bei I bleibt ein Loch zurück:
Ich bin I, Tordo is T, und sie ist S.
Logischer Schluss: Ich(I) bin als einzige zerbrochen, keine Ahnung, ob ich ein Loch habe oder mir ein ganzes Stück fehlt:

Oder prosaisch:

Man sieht Dinge oft erst im Nachhinein. Die Einsamkeit zum Beispiel. Nicht das Gefühl, allein zu sein oder im Stich gelassen zu werden. Das ist etwas anderes. Einsamkeit sieht man nicht, man erlebt sie, ohne sie bewusst zu bemerken. Jedenfalls die Art von Einsamkeit, von der ich spreche. Sie ist eine Art leere Menge, die sich im Körper, in der Sprache einrichtet, bis einen niemand man versteht.

Oder analytisch im Nachwort:

Die Figur der Mutter, die des Vaters, die Institution Familie im Allgemeinen, die romantische Liebe, wissenschaftliche, literarische und künstlerische Konventionen, geopolitische Grenzen und die Gewalt autoritärer Systeme rufen ein Gefühl tiefer Enttäuschung in jener Figur hervor, die auf ihrer Suche nach Empathie versucht, eine beliebige Person zu sein, also: ich(I). Dieses Entlieben entspricht einem Zustand der Wachheit, unsere einzige Möglichkeit, in der Gegenwart zu leben, die sichere Überzeugung, dass die Welt, die wir geschaffen haben und die uns geschaffen hat, nicht mehr funktioniert oder noch nie funktioniert hat – kurz gesagt: die permanente Traurigkeit, weil wir wissen, dass innerhalb dieser Strukturen jeder spurlos verschwinden kann.

Ein großartiges Buch.

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Siehe auch:
Literaturzeitschrift alba11: Schwerpunkt weibliches Schreiben

Ich schrieb:
Conjunto vacío (2015) wird als autobiografische visuelle Erzählung bezeichnet. Einmal mehr machen die vorgestellten Textteile Lust auf die Lektüre des Werks.