Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

Irgendwie fühl ich mich fehl am Platz
in Manhattan und sogar in Greenpoint, wo
ich heute deine Lieblingspfannkuchen
mit Spinat bestellte, doch das hat mich dir
keine Meile näher gebracht.
(aus: Zusammenfalten)

Dąbrowskis Gedichte sind Wechselbewegungen zweier Menschen, die große Abstände zu verringern suchen.

Deine Hand, die in der Nacht zu mir fliegt über
Wüste und Meer, liegt am Morgen an deiner
Wange wie ein toter Mauersegler
(Aus: Deine Hand)

Zeitgeschehen, Geschichte, Politik finden auf unterschiedliche Weise Eingang in die Gedichte, manchmal unvermittelt und schrill, manchmal leise und poetisch. Dąbrowski beherrscht viele Tonlagen.

In Renovierung der Fassade tauchen vor dem Hintergrund eines Klosteraufenthalts zwei Zeilen über sexuellen Missbrauch durch Priester auf.
Diese Zeilen zitiere ich nicht. Sie könnten bei Missbrauchsopfern retraumatisierend wirken.

Besser, eindringlicher dagegen:

du Buch in den Händen der Berge, aus dem die Götter
ein Schmierheft machten, deine Seiten gefressen von den Motten
der Kugeln, angesengt von der Glut aus der Zigarette des Anführers
und seiner fleißigen Schüler, die dich studierten
Zeile für Zeile mit ihren Scharfschützen-Lupen.
(aus: Sarajevo,)

Wenn Dąbrowski über Liebe und das Entlieben spricht, so bleibt er auf Distanz, legt eine kühle Analyse vor.

Ich dachte, die Liebe sterbe effektvoller,
an Herzschlag oder Aids, doch geht sie

gleichgültig wie ein Mensch,
der etwas verloren hat, aber noch

nichts davon weiß.

Einmal jedoch spüre ich große Nähe. Und die Emotion, die der Autor niederschreibt erreicht mich Leser.

Und mein Vater

geht. Er war stark wie Brot,
doch jetzt ist er ein Krümel.

Ich lege ihn mir auf die Lippen
und spüre einen Laib. Vater

geht. Ich dachte, er würde
sich noch einmal umdrehen,

um zu sehen, ob ich gucke.
(aus: Vater geht)

Und da ist es doch, das große Geheimnis der Lyrik: mit wenigen Worten, einfachen Bildern das Unsagbare sagen: Die Kraft des Vaters, die zerstäubt, wird auf den Lippen des Kindes wieder lebendig, für den Moment eines schmerzhaften Abschieds.