Wir malen alle den gleichen Vogel aus
Gunnar Decker vermisst den Möglichkeitsraum der
intellektuellen Elite der DDR vor dem 11. Plenum des
Zentralkomitees (ZK) der SED im Dezember 1965
Jochen Schanotta, siebenjährig, lernt fürs Leben. Der Lehrer sagt
ihm noch: „und daß du nicht über den Rand malst!“ Ich Idiot hab’s so
gemacht, und am Ende hatte ich den gleichen Vogel wie alle. Gunnar
Decker arbeitet als Redakteur der (ehemals ostdeutschen)
Theaterzeitschrift „Theater der Zeit“, Georg Seidels Stück „Jochen
Schanotta“ findet sich im (ehemals westdeutschen) Pendant
„Theater Heute“ (4/87). Andreas Döhler als Schanotta am
Deutschen Theater (2011/2012) bringt den Widerspruch zwischen
Autonomie und Indoktrination der Jugend mit dieser
Eingangsszene auf den Punkt. Nach der Uraufführung des
Stückes in der DDR 1985 am Berliner Ensemble wird eine
Kampagne gegen Seidel, dessen Figur nicht dem sozialistischen
Leitbild entspricht, losgetreten.
20 Jahre zuvor wird Decker geboren und in seinem neuen Buch
unterzieht er sein Geburtsjahr einer ausführlichen Untersuchung.
Es geht ihm dabei um den Freiraum, den die von Walter Ulbricht
forcierte Wirtschaftsreform für den Bereich der Kultur bietet. Der
Autor macht schnell deutlich: die kurze Schönwetterperiode
währt länger als ein Sommer, endet dann aber im Dezember mit
dem 11. ZK-Plenum der SED, genau genommen in der
administrativen Nacharbeit um den Jahreswechsel durch Erich
Honecker, der damit die Entmachtung Ulbrichts vom 3. Mai 1971
vorwegnimmt. Decker sieht dieses Plenum auf halbem Weg
zwischen Mauerbau 1961 und der Niederschlagung des Prager
Frühlings 1968. Hinzu kommen zwei weitere Ereignisse: die
Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und das Wendejahr 1989.
Das sind die Pfeiler, zwischen denen ein enges Netz an
Lebensläufen von Politikern, Funktionären und
Kulturschaffenden aufgespannt wird.
Diejenigen unter uns, die die DDR schon immer in
Anführungsstrichen geschrieben haben, mögen Decker fragen,
ganz im Sinne Ulbrichts, der keinen Sinn für Kultur hatte (darin
übereinstimmend mit Honecker), sich aber anmaßte, selbige zu
beurteilen: Wem nützt das Buch? Die Geschichte ist darüber
hinweggerollt. Ich bin 1965 geboren, tief im Westen, im
Südwesten Deutschlands. Bei uns zuhause wurde die DDR nicht
in Gänsefüßchen gesetzt. Zweifellos lag das an meiner Mutter,
die im August 1958, ihren Eltern folgend, die DDR verließ, statt
sich für Ökonomie zu immatrikulieren. Vielleicht wäre sie,
durchaus proletarischen Ursprungs, eine jener jungen Fachkräfte
geworden, auf die Ulbricht setzte, als er erkannte, nur mit
wirtschaftlichen Reformen ließe sich dauerhaft das sozialistische
Deutschland erhalten.
Für mich schließt Gunnar Deckers Buch Wissenslücken. Er
schreibt ein gut lesbares, spannendes Sachbuch, das trotz des
Umfangs nicht müde wird, einen kenntnisreichen und
einfühlsamen Blick auf die Menschen, die in der DDR gewirkt
haben, zu werfen.
Decker blickt zunächst auf die Zeit unmittelbar vor dem ZK-Plenum.
Im Kapitel „Erich Apels mysteriöses Ende“ nimmt er
uns mit in einen Politkrimi. Dabei bleibt sein Ton sachlich,
widersteht der Versuchung, Verschwörungstheorien
auszubreiten. Es ist diese Sachlichkeit, diese leicht unterkühlt
wirkende Haltung, jenseits von Polemik, das dieses Buch so
lesbar und es eben gerade nicht brauchbar macht für Kämpfe auf
der ideologischen Resterampe. Der Autor bewegt sich auf immer
noch vermintem Terrain. Das spürt man beim Hören des
Interviews mit Decker für MDR FIGARO zur Leipziger
Buchmesse 2015. Der Autor gerät unter Rechtfertigungsdruck,
weil er den Mauerbau vom 13. August 1961 als historische
Tatsache annimmt und davon ausgehend Überlegungen zur
weiteren Entwicklung der DDR anstellt.
„Am 3. Dezember 1965, morgens um 9 Uhr, betritt Erich Apel, Chef
der Staatlichen Plankommision, sein Arbeitszimmer im Haus der
Ministerien. Apels Überzeugung: Die Großindustrie soll nach
marktwirtschaftlichen Maßstäben arbeiten, Kredite aufnehmen können
und Gewinne wieder selbständig investieren. Die Preise sollen sich am
Marktwert orientieren, die Reform der Industriepreise ist bereits im
Gange.“
Apel ist Ulbrichts Mann für die Umsetzung des „Neuen
Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL).
Doch nachdem mit Leonid Breschnew 1964 in der UdSSR die alte
stalinistische Richtung wieder an die Macht kommt, steht die
Reform auf verlorenem Posten. Apel widerspricht Breschnews
Politik und wird zur Persona non grata. An diesem 4. Dezember
wird ein Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit
der Sowjetunion unterzeichnet, ein von Moskau aufgezwungenes
Diktat. Apel erlebt die Unterzeichnung nicht. Ob er nun freiwillig
aus dem Leben scheidet oder ob er Opfer einer politischen Intrige
wird, dem spürt Decker nach, ohne abschließende Antworten zu
geben. Es spricht von Klugheit, Fragezeichen an die richtige Stelle
zu setzen.
Den Dogmatikern lief Ulbrichts Wirtschaftspolitik aus dem
Ruder. Wo später Honecker den Konsum ankurbelt, um die
Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen, auf Kosten einer
Staatsverschuldung und Kreditabhängigkeit vom Westen, plant
Ulbricht einen Weg zwischen Planwirtschaft und freiem Markt.
Er ist überzeugt, nur so kann der Abstand zur wirtschaftlichen
Entwicklung im Westen Deutschlands wenigstens verringert
werden. Diese Politik zeigt im Ansatz Erfolge. Ulbrichts Absicht,
die Politik in die Hände einer neuen Generation zu legen, die
Entscheidungsträger sollen Fachleute sein, nicht SED-Kader, ist
eine offene Kampfansage an den Apparat.
Im Februar 1961 ernennt Ulbricht den erst 34-jährigen Hans
Bentzien zum Minister für Kultur. Er wird in den wenigen Jahren
bis zu seiner Absetzung 1966 eine Atmosphäre schaffen, die der
Kultur eine größere Autonomie gewährt. In diese Zeit fällt auch
das Jugendkommuniqué von Kurt Turba (einem Intimfeind
Honeckers), veröffentlicht im September 1963. Darin heißt es:
„ Unsere Jugend wird immer noch, in der Schule und auf
Versammlungen, vielfach mit Oberflächlichkeiten, unbewiesenen
Behauptungen und überflüssigen Phrasen traktiert, anstatt sie zum
selbständigen, wissenschaftlichen Denken anzuregen und zu
befähigen.“ Ein neuer Ton, der Anlass zu Hoffnung gibt. Doch
Honecker hat sich die Kulturpolitik als Agitationsfeld gewählt,
da er Ulbricht nicht direkt im Bereich Wirtschaftspolitik
angreifen will. Er arbeitet diskret an einer Verschwörung, die
Stoßrichtung, die im 11. ZK-Plenum ausgerollt wird: Die Jugend
ist versaut, Schuld sind die Kulturschaffenden! Im Januar wird
Hans Bentzien zu Ministerpräsident Stoph vorgeladen, um seine
Demission entgegenzunehmen. Er gibt sich kämpferisch. Was
man ihm vorwerfe? Sabotage! Wann er erschossen werde? Decker
weist in diesem Zusammenhang auf eine ungeklärt verlaufende
Standard-OP hin, bei der Bentzien beinahe seine Stimme verliert.
Nicht alle können von dieser größeren Autonomie der Kunst
profitieren. Das zeigt der von Stephan Hermlin initiierte
Lyrikabend am 11. Dezember 1962 an der Akademie der Künste,
bei dem er hoffnungsvolle Talente vorstellt; unter den
Entdeckungen jenes Abends Wolf Biermann und Volker Braun.
Man spürt Aufbruchstimmung im Raum, greifbar wird das
Lebensgefühl einer jungen Generation. „Sie ist sich ihrer
Verantwortung bewusst, nur ein Jahr nach dem Mauerbau die vielleicht
letzte Gelegenheit zu haben, einen Sozialismus zu gestalten, der nicht
auf ideologische Indoktrination beruht und sich auf konspirative Weise
beständig der eigenen Unangreifbarkeit versichert, dabei nicht bloß
selbstgefällige Provinzialität, Mittelmäßigkeit und Stickluft
reproduziert, sondern auf phantasievolle Weise weltoffen, selbstbewusst
und kritisch die eigenen Angelegenheiten in die eigenen Hände
nimmt.“ Der Abend endet in einer hitzigen Diskussion über die
Funktion der Medien, insbesondere des „Neuen Deutschland“.
Es wird eine gelenkte Atmosphäre gegen das Zentralorgan
behauptet. Das ruft die Dogmatiker der SED auf den Plan. Für
Hermlin folgen schwarze Jahre, verordnete Aussprachen,
Selbstkritik. Das übliche Ritual, um die Menschen klein zu
machen. Scharfmacher wie Kurt Hager, Gefolgsmann Honeckers,
schlagen bereits in der liberalen Phase der Kulturpolitik Pflöcke
ein, die sie später zu Brückenköpfen ausbauen. Hermlin bringt
die Selbstkritik mit kalter Verachtung hinter sich, zieht sich
zurück, stellt seine Literaturproduktion ein, wendet die
verbliebene Kraft auf (wie auch Franz Fühmann), die junge
Generation zu unterstützen, wo es nur geht.
Werner Bräunig wird aus der ideologischen Schlachtung eines
1960 begonnenen und nie fertiggestellten Romans als Wrack
hervorgehen. Er stirbt 1976 im Alter von 42 Jahren an den Folgen
einer Alkoholsucht. Das Besondere dieses Falls ist, der
Vorabdruck eines Kapitels in „Neue Deutsche Literatur“ im
Oktober 1965 reicht, um dem Autor unverhohlen zu drohen.
„ Oder willst Du weiterhin Schmutz über unsere Bergarbeiter und
deren Frauen schreiben wie in ‚Rummelplatz‘?“ Decker zitiert aus
einem Interview mit Bräunig zu dessen 40. Geburtstag, um zu
belegen, was dieser gerade vehement abstreitet. „Ich bin weder
Opfer des 11. Plenums geworden, wie es Presseleute und
Literaturgeschichtsschreiber der BRD seit Jahren immer wieder frisch
freiweg behaupten, noch ist in irgendeiner anderen Weise Porzellan
zerschlagen worden …“ Wenn Gunnar Decker von zum Erbarmen
jämmerlichen Sätzen spricht, so ist er fern von Ideologie nahe bei
dem gebrochenen Menschen Bräunig.