Pavel Odvody | Eric Giebel: „Alphabet“

Das Ergebnis der Zusammenarbeit mit dem Fotografen Pavel Odvody ist soeben erschienen.

Alphabet
Fotografien | Gedichte (zweisprachig: Deutsch – Englisch), 64 Seiten
KRAUTin, Berlin 2022
ISBN 978-3-96703-076-1
16,00 Euro [D]

Zu beziehen über Pavel Odvody oder mich.

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Vorwort:

Dichter als Analphabeten

Eine kleine Anzahl von Zeichen genügt, um Worte zu formen, Gedanken aufzuschreiben und den Kosmos des menschlichen Seins vollumfänglich abzubilden. Schriftsysteme sind sehr mächtige Werkzeuge. Wem sie nicht zur Verfügung stehen, dem fehlt der Zugang zu Bildung und Macht in einer Welt, die orale Traditionen verdrängt und auslöscht. Wir, im Zentrum der  kapitalistischen Welt stehend, sehen in Analphabeten Unwissende.

Zu Unrecht! Archive müssen nicht zwangsläufig aus Schriftstücken in analoger oder digitaler Form bestehen. Am Anfang standen Ritzungen und Zeichnungen in Fels. Das kollektive Gedächtnis einer Familie, eines Clans oder eines Volkes ist ein großes Archiv. Es kommt auch ohne das geschriebene Wort aus und funktioniert in tradierten, oralen Überlieferungen. Die Aborigines Australiens nutzen dafür das Wort Songlines.

Gab es, gibt es Dichter, die Analphabeten sind? Ich konnte mir das nicht vorstellen, so beschränkt war ich auf das Niederschreiben von Buchstabenkombinationen, die ich mir nie ins Gedächtnis einprägte. Ich muss zugeben: Ohne diese verschriftliche Form bin ich verloren, blank, hilflos, unwissend.

Natürlich ist es möglich, Worte nur ins Gedächtnis einzuschreiben und sie rezitierend oder singend weiterzugeben. Die Welt ist so viel größer als die Anzahl der Zeichen. In meiner Muttersprache sind es 26 Buchstaben (ohne Sonderzeichen: ä, ö, ü, ß). Mein Archiv eines Analphabeten besteht aus ebenso vielen Gedichten (einige für dieses Buch geschrieben, andere dem Archiv entnommen). Sie nehmen historische Ereignisse ebenso auf wie Betrachtungen des zwischenmenschlichen (Un-)Glücks und zufällig gefundenes Material. Es geht um das Wunderbarste (Zuneigung, Liebe), aber
auch um das Grausamste (Hass, Krieg), was Menschen sich gegenseitig antun können. Ins Zentrum rückt der menschliche Körper, so schön, so verstümmelt, wie wir ihn zulassen.

Eric Giebel