: Hätten Wörter ein Gedächtnis
, fragt der Schweizer Andreas Neeser (* 1964) in seinem neuesten Lyrikband Nachts wird mir wetter,
wäre das
eine gute Nachricht?
(Einsagen. Aus – XVI)
Wörter mit einem künstlichen Intelligenzapparat zu versehen, der in Sekundenschnelle ausspuckt, wer, wann, wo und wie oft welche Wörter benutzt hat? Wem warum gelungen ist, aus Wörtern Worte zu machen? Aus den Einzelelementen einer Sprache Zusammenhänge zu flechten oder zu weben, je nach Handwerkskunst und Tradition? Wäre das eine gute Nachricht?
Nein, ich glaube nicht.
Das Gedächtnis (und das Vergessen) darf auf der Seite der Menschen bleiben, jedenfalls im Bereich der Literatur, der Lyrik, der Sprache.
Denn welchen Nutzen bringt die nackte Information, dass Wörter wie etwa Holz, Haut und Wetter bereits in Neesers Band Wie halten Fische die Luft an enthalten sind, soundso oft, wenn ich nicht lesen kann, wenn ich mir nicht mehr die Mühe machen möchte, die Sinneinheiten zu erkennen, innerhalb eines Bandes oder werkübergreifend? Wenn ich mich der existientiellen Freude des Lesens, der Spurensuche in der Wörter- und Wortewelt eines anderen, beraube und mich also Statistiken ausliefere, die Wahrscheinlichkeiten berechnen und steuernd eingreifen?
warst du blütter als
nackt
bist du immer noch
Zustand von Haut.
(aus: Erweckung)
Ja, es geht: nackter als nackt, das sagt Neeser in seiner Muttersprache, dem Aargauer Dialekt. Und er ergänzt, auch in diesem entmenschlichten Zustand sind unsere Körper von einer Hülle umgeben. Ist das Trost? Ist das Mahnung?
Wir geraten zunehmend in die Abhängigkeit von Algorithmen, die uns bewegen, in definierte Richtungen, während an uns ein Materialwechsel vorbereitet wird.
«[…]
Sie leiden an schnell progredierender Lignifizierung, in
anderen Worten, ich sage es nicht gern: Über kurz oder
lang sind Sie Holz.»
(aus: Holz)
Ich frage mich: Wie fühlt sich so eine Haut an. Aus Holz.
(aus: Holz)
Neeser nimmt die ihm zugedachte Rolle (Krankheit?) als Baum an, er sucht Wurzel, Licht und Luft. Und beharrt auf sein Herz.
«Aber ja», sag ich, «das was hier liegt, ist ein Baum. –
Echtholz mit Herz, Junge. – So sieht es aus.»
(aus: Holz)
Neesers Band ist in vier Kapitel aufgeteilt. Naturalia zu Beginn erscheint mir als unmittelbare Fortsetzung, Weitererzählung der Familiengeschichte.
Was mit Großmutters Mund war ein Keller im Vorgängerband begann, wird hier weitererzählt.
«So», sagte Großvater
(aus: Memento mori)
Genau betrachtet ist die Reihenfolge verdreht. Denn bevor das Kind im Winter die Boskop-Äpfel genießen kann, steht eine lange Reihe von Arbeitsschritten an, bis hin zum Pflanzen der Bäume.
ich weiß noch, im
Winter sinds Äpfel, das Kind hat die Wangen voll
Zungen für | Boskop | wird sonntags geschält, eine
Häutung zu zweit
(aus: Großmutters Mund war ein Keller)
Er wies mit dem Gehstock in Richtung der ganz
jungen Bäumchen. Im Gras lagen Pickel und Schaufel
bereit.
(aus: Memento mori)
Ich mag es sehr, wieviel Neeser seiner Lyrik zutraut und dass er ihr auch Geschichten anvertraut, selbst wenn die Übergänge zur Prosa fluide werden.
Das lyrische Ich wird hier, so meine ich, in große Übereinstimmung mit dem autobiografischen Ich gebracht, mit abermals hoher Kunstfertigkeit, ohne die Instanz Autor in den Vordergrund zu spielen, aber auch ohne Ängste, Verluste und Zweifel zu verschweigen.
Im Kapitel Zungen arbeitet sich Neeser durch Wörter und Sätze seiner Mundart an seine Herkunft, seine Identität heran.
Mit sechzehn verschluckte ich
Hals über Kopf
meine kindliche Lautung
wie sollte ich reden
(aus: Archiv)
Die Erstsprache wächst mir
verwächst sich
ganz innen
mein kehliger Keller
(aus: Zur Sprache)
Eine Hochsprache, eine Literatursprache ist nicht die Muttersprache, sondern das artifizielles Produkt eines Bildungssystems. Man kann es lernen, ja. Aber es ist gut, seinen Ursprung nicht zu vergessen.
Die Landkarte der menschlichen Sprache besteht eben nicht aus monotonen Flächen der Hochsprachlichkeit, sondern aus Flecken, manchmal schneefrei, aper (ein Wort, das ich nicht kannte, aber im Gedächtnis bewahrt habe), einem Flickenteppich von 7000 Sprachen weltweit ohne all die Varietäten, die die Nischen besiedeln.
Pier Paolo Pasolini hat 1942 seinen ersten Gedichtband Poesie a Casarsa in Friaulisch verfasst, der Sprache seiner Großeltern mütterlicherseits.
Im dritten Teil Einsagen. Aus arbeitet Neeser mit dem Maximum an lyrischer Verknappung, einem raumbietenden System von Halbsätzen und Zeichen,
: Sind keine Fragen mehr
ist alles
offen
(Einsagen. Aus – XVIII)
Wettermachen, das vierte Kapitel, schließt den Band.
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.
(aus: Wettermachen)
Abschied und Suche ist Bestandteil des Lebens. Suche in der Zukunft, Suche in der Vergangenheit. Diese Suche kann nur gelingen, wenn wir Menschen bereit sind loszulassen, so schmerzhaft das auch sein mag, so groß die Verlustängste auch sind. Da ist das Innen und das Außen, das sagen mir Neesers Gedichte, wir können handeln, sogar das Wetter bestimmen, mal als Luft, mal als Wurzel.