Büren TG
Ein urbanes Puzzle aus sichtbaren und unsichtbaren Teilen
Zsuzsanna Gahse hat ihrer Leserschaft mit dem im August erschienenen Buch ein Puzzle geschenkt. Ich mag dieses Geduldsspiel; die Ecken sind schnell heraussortiert, die Randteile ohne Probleme zusammengefügt, doch dann wird es schwieriger. Am Ende liegt ein Bild vor mir, das vortäuscht, einen Gesamtblick auf die Landschaft zu gewähren. Doch ohne die unsichtbaren Teile, die im Verborgenen darauf warten, sich den Personen zu öffnen, die sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden geben, bleibt das Spiel unvollständig.
Die Eckteile
Die Personen setze ich in die Ecken. Jan, Janka, Sara und die „ich“ genannte Stimme bilden meinen Ausgangspunkt. Hinzu kommen weitere zwanzig Personen, die in unterschiedlicher Länge und Häufigkeit Auskunft geben über das, was sie bewegt. Sie geben ihre freimütigen Meinungen in einem Tonstudio in Büren zu Protokoll, das sich, sozusagen als freiheitlich-demokratische Instanz, verpflichtet, diese Audio-Sammlung der Einheimischen und ihrer Besucher vor einer Verwertung dauerhaft zu schützen. Das Ich lebt unten im Tal (Talstimme) und wirft einen anderen Blick auf Büren, diese rasant wachsende Stadt auf dem Wellenberg.
Wir züchten hier Häuser, in erster Linie Rassehäuser. Jeder soll zwei Wohnungen oder Häuser haben, wegen des guten Tons, weil zur Sittsamkeit zwei Domizile gehören, mindestens, damit niemand auf einen einzigen Ort beharrt und dort kleben bleibt. (Schwarm · Jan)
Mir macht es nichts aus, wie Büren wächst und wächst. Nachmittags, wenn ich mit dem Auto von Konstanz nach Hause fahre, sehe ich die Ortssilhouette, den wachsenden Umriss, und der gefällt mir. Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die das Zubauen der Hügel und der übrigen Landschaften gut finden, genau genommen ist das Zupflastern ein Horror, ein herrlicher Untergang der Erde. (Bang · Janka)
Nachher erzähle ich die Geschichte meinem Vater, der mit vierundachtzig gestorben ist. Wir werden miteinander ein großes Zahlenspiel beginnen, ein Alterszahlenspiel. Zum Beispiel acht mal acht. Vierundsechzig bedeutete früher ein gewisses Alter. Vierundsechzig mal acht kommt als Alter nicht in Frage. (Schach · Sara)
Sie haben ihre Meinung, ich die meine, und außer meiner Meinung gibt es deine Deinung, und die Unserung. Gemeinsam steigen sie den Hang hinauf, unterwegs begegnen sie der Ihrung, Deinung hustet und hat einen roten Kopf. (Taltext)
Die Randteile
Die Landschaft setzt die Ränder. Ich erkenne ein breites Tal in der Ostschweiz, wir sind im Kanton Thurgau (TG). Selbst mit Adleraugen und Google Earth gelingt es nicht, Büren auf dem Wellenberg zu verorten. Die Stadt als sozial unverträgliche Utopie, eine Fiktion, die ohne den Samen der Gegenwart, diesem Lebenslabor zwischen Vergangenheit und Zukunft, nicht aufgehen kann.
Aus der Vogelperspektive ist das Thurtal eine übersichtliche Landschaft, eine ehemalige Seegegend, wie ich seit Kurzem weiß. Bis in die Nacheiszeit hinein lag im Tal ein Gletschersee, immerhin so groß wie der heutige Zürichsee, nördlich und südlich von zwei langgestreckten Höhenzügen begrenzt, dem Seerücken und dem Wellenberg, von zwei Rivalen, wie ich oft meine, wobei die Gegnerschaft nur eine Sache der Perspektive ist. Am Wellenberg gibt es, wie schon erwähnt, einige Standorte, von denen aus der Blick unmittelbar zum Seerücken führt, von Berg zu Berg, als hätte man eine einzige Berglandschaft vor sich. Das Tal bleibt dabei ausgespart, es liegt in einer Falte, versunken in einer Falte, und von einer Gegnerschaft der Berge kann dann keine Rede sein. (Taltext)
Die sichtbaren Teile
Nach und nach bringe ich die Teile in ihre Position, sie greifen ineinander. Es gibt Teile, deren Inhalt ich schneller erkenne, für andere brauche ich länger, lege sie wieder weg, um im zweiten Anlauf erfolgreich zu sein. Es ist ein zufälliges Spiel und die Vollendung des Landschaftsabbildes ist dabei eine unvorstellbar hohe Anzahl von Möglichkeiten. Da passiert es, dass ich im Prozess den Sinn des Einzelteils nicht erkenne und mich das Gefühl der Beliebigkeit erschleicht. Warum halte ich gerade jetzt dieses Teil in der Hand? Wozu ist es gut? Sicher hat die Autorin die vierundzwanzig Stimmen nicht zufällig gesetzt, sondern wohl bedacht, einer inneren Logik folgend. Ein Buch muss einem Spannungsbogen, wie immer er ausgeprägt sein mag, folgen, um nicht Gefahr zu laufen, weggelegt zu werden. Diese Notwendigkeit widerspricht jedoch dem Wesen des Puzzles. (Selbst meine Vorgehensweise, erst alle Teile auf die bedruckte Seite zu drehen, Eckteile, Randteile zu suchen und zu fügen, dann mit dem Kern zu beginnen, ist sehr fraglich. Mein Sohn beweist mir gerne, dass es auch anders geht.) Das Puzzle lebt die Anarchie, bevor es sich der Ordnung fügt. Wenn wir Erwachsenen das Puzzle beendet haben, seien wir ehrlich, verlieren wir sofort das Interesse am Spiel. Kinder können das Puzzle erneut fügen, dabei des Spieles wegen voller Freude andere Wege nutzen, um ein neues Bild zu erschaffen. Doch Kinder sind im urbanen Konzept von Büren (TG) nicht mehr vorgesehen.
In Büren wurden seit zwei Jahren keine Kinder mehr geboren, allerdings gebe es neu Hinzugezogene mit Kindern, stand in dem Blatt, dem natürlich niemand trauen muss. Bei solchen Mitteilungen fällt einem unwillkürlich ein, wie abfällig die Leute hier über Frauen oder Paare mit Kindern reden. (Wahl · Janka)
Das ist bedrohlicher als die Panzer, die Gahse am Ende aufrollen lässt. Ja, der Krieg rückt näher in die Mitte Europas, Überwachung, Entrechtung und Enteignung. Wenn jedoch keine Kinder mehr da sind, die die Bilder neu zusammensetzen, wird unsere Gesellschaftsordnung totalitär und tot.
Die unsichtbaren Teile
Ein Name, ein Buchtitel schwebt über der Lektüre: Italo Calvino und sein 1972 erschienenes Buch „Die unsichtbaren Städte“, über das Wikipedia die Auskunft erteilt: „Kein Roman, sondern ein singuläres, sich gegen alle Gattungsbezeichnungen sperrende Stück Literatur […], verdichtet sich mehr und mehr zu einem beklemmenden Panorama einer von Zerfall und Untergang bedrohten Welt.“ Das Recycling dieser Worte für Gahses Buch sei erlaubt.
Ein weiteres unsichtbares Teilchen sehe ich in Werner Dürrsons „Das Kattenhorner Schweigen“, ein schmaler Gedichtband, der 1985 mit dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Da blickt jemand von der anderen Seeseite auf den Seerücken und erahnt vielleicht noch im Hintergrund den Wellenberg. Freilich: Büren, wie es Gahse aufleben lässt, gab es in den Achtziger Jahren noch nicht. Aber das Verschwinden einer Kulturlandschaft zugunsten einer Parzellierung von Grundstücken, diese Einigelungswut, die ihren Ausdruck in Immobilienwirtschaft, sozialer Kälte und Gedächtnisverlust findet, ist bereits bei Dürrson präsent.
Freundlicherweise gibt die Autorin mit einer Danksagung an Richard Sennett und Georges Perec wesentliche Hinweise, wo ihre unsichtbaren Teile zu finden sind. Richard Sennett, 1943 geborener US-Soziologe, Sohn kommunistischer Eltern, „seine Hauptthemen sind die Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht moderner Individuen, die Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Ausübung von Herrschaft“ (Wikipedia). Georges Perec (1936 – 1982), sein Hauptwerk „La Vie mode d’emploi“ (deutsch: „Das Leben Gebrauchsanweisung“) ist formal und inhaltlich ein Puzzle. Ich komme nicht umhin, die „Werkstatt für Potentielle Literatur“ (franz. „L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle“, OuLiPo) zu erwähnen, ohne dessen Programmatik das Werk Perecs nicht entstanden und verstanden wäre. Darüber ließe sich noch viel Notwendiges sagen, lesenswert ist Gundel Mattenklotts Abhandlung „Über einige Spiele in Georges Perecs Roman ‚Das Leben Gebrauchsanweisung’“. Ich will es bei meiner kleinen Freude belassen, dass auch Calvino Oulipien war, genauer gesagt: ist. Verstorbene bleiben Mitglied und gelten als entschuldigt. Ein interessanter Umgang mit Lebenszeit, Verklärung, Vergangenheit, Stillstand und Fortschritt.
Die Gegenwart kommt nicht einmal zufällig vor, und entsprechend sind die alten Fotos, die sie sammeln, eine Ölhaut gegen die Gegenwart. (Flachs · Jan)