Jek kućin ćišaj sem me
Der da auf Gurbet (Varietät des Vlax Romani) schreibt Ein Sandkorn bin ich, er muss ein Wesensverwandter sein. Einer, der die Einsamkeit in der Menschenmasse kennt und dessen Band ich vom Wegrand aufgelesen habe. Welch ein Fund!
Ilija Jovanovićs zweisprachiger (Gurbet – Deutsch) Lyrikband Vom Wegrand | Dromese rigatar wurde 2006 veröffentlicht. Wer dieses Buch zum Sperrmüll gelegt hat, tut den Gedichten Gleiches an, wie es Jovanović (1950-2010) widerfahren:
Eintauchen wollte ich
in die wunderbare Sprache
der Lyrik.
Doch schon
auf dem Gang meiner Wohnung
standen, auf dem Kopf
und eng aneinandergeschmiegt,
meine aus dem Schlafzimmer
gerissenen Matratzen.
Eine graue Ahnung überfiel mich.
[…]
Wo um Gottes Willen
sind Bachmann, Eliot, Rilke, Puschkin,
Mariella Mehr, wo Jovan Nicolić …?
„Wo sind sie?“
schrie ich außer mir.
„In einem Sackerl“, kam es von dort zurück,
wo unsere Küche ist.
[…]
(aus: Eintauchen wollte ich …)
Jetzt bin ich es, der das Weggeworfene durchwühlt, um einen Fund zu bergen, zu sichern, zu bewahren. Nachdenkt über Jovanovićs Zeilen:
Ein Sandkorn bin ich,
an den äußersten Rand
des Flussbetts geworfen,
dürstend
nach der Strömung
der Wassers.
Allein schon die Tatsache, dass im deutschsprachigen Buchmarkt eine Nische für Romani-Literatur geschaffen wurde, ist ein Ereignis.
Ich schrieb über den 2017 erschienenen Prosaband Der Eremit. Stille und Unruhe eines Rom des ebenfalls auf Gurbet schreibenden Ruždija Russo Sejdović:
Dass sich kein renommierter deutscher Verlag fand, der Band vielmehr als Eigenpublikation erschien, verrät viel über den Umgang mit Minoritätssprachen und belegt den schlechten Zustand Europas.
Ich nehme zur Kenntnis: Es gibt Menschen in Europa, die sich um den Zustand des Kontinents sorgen und für die Sichtbarkeit von Minderheiten kämpfen.
Jovanović schreibt über Armut und Krankheit.
Unsere Mütter tauchten sie
in frisches Wasser und
streuten darüber
Gebetsformeln:
Wer sich damit wäscht,
bleibe das ganze Leben
gesund, jung und schön!
Aber noch im selben Jahr
gruben sich erste Furchen
in unsere Gesichter.
Einer starb an einer Infektion,
einer an Hunger,
eine an der Kälte.
(aus: Vidovdan)
Jovanović schreibt über Porajmos.
Redet, ihr verscharrten Knochen!
Aus Ravensbrück, aus Auschwitz
und Mauthausen!
Über Zwangsarbeit redet
Und Zwangssterilisation.
Und von den schweren Steinen,
die ihr über die Todesstiege
tragen musstet.
(aus: Nachrichten aus dem Jenseits)
Jovanović schreibt über die Liebe zu Menschen und zu Gott. Es sind Texte in der universellen Sprache eines Lyrikers, der seine Identität verorten möchte.
Ko sem me?
Jekh Rom?
Jekh srbino
Ili možda jekh austrijanco?
Kaj tek so lijem
jekh ili aver
lendar te avav,
ikljel o trito andar mande.
Dikha, kaj ni jekh
lendar naj sem.
Ama ni Rom naj sem maj but.
(Ko sem me?)
Und wenn auch ich nicht weiß, wer ich bin, Deutscher, Gadscho, dessen Vorfahren Shoah und Porajmos nicht verhindert, sondern mutmaßlich gebilligt haben, so weiß ich doch eines und habe es in einem meiner Gedichte aufnotiert:
Das Große wie das Kleine sehend bin ich
Sandkorn. Bin von der Strömung getrieben.
(aus: Bachdelta, in: Sandkorn)
Die Begegnung mit dem Sandkorn Ilija Jovanović ist mir wertvoll und trostreich.