Ozeanische Leiblichkeit
In dem gerade mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Kategorie: Sachbuch) ausgezeichneten Buch Queer gestreift. Alles über LGBTIQA+ lese ich folgenden Satz:
Dabei kann eine cis Person doch gar nicht wissen, wie es ist, trans zu sein. Wie soll sie das also beurteilen?
Ich bekenne: Ich schreibe diese Rezension aus einer Position heraus, in der die cis heteronormative Gesellschaft, die mich über Jahrzehnte lenkte und formte, zunehmend mehr Risse bekommt. Durch diese dringt Licht, ich erkenne die Begrenztheit meiner Welt, die möglicherweise gar nicht meine Welt ist.
Wie also diese Rezension schreiben?
Es darf mir nur gehen um eine vorsichtige Annäherung an eine Welt (hinter | vor? der Mauer), die sich eine Sprache erschafft, um eine Sprache, die sich eine Welt erschafft.
Mit Passage durch den reißenden Strom legt die Schriftstellerin Myriam Sauer ihr Prosadebüt vor.
Am Ende des Romans hält die Protagonistin Rachel, trans* feminine Persönlichkeit, einen Nachruf auf den trans* maskulinen Freund Finn, der aus eigenem Willen aus dem Leben getreten ist. Ein furioser, lebensbejahender Höhepunkt des Romans, den … [Schweigen, die Stille der Welt.]
Dein Tod taucht die Welt in ein sanftes Blau […]
Erinnerst du dich noch, wie rege der Gesang war, als wir uns kennenlernten? Wie aus unserer beider Körper solch tiefe Leidenschaft füreinander sprach, Bewusstsein für die Verwundung im Innern, ihre stete Präsenz in unserem Leben und das Verlangen danach, uns in der Dunkelheit wieder zu entdecken?
, den … [Versuch, Sprache zu finden – Seht ihr denn nicht, dass wir bereits verbrennen an den dysphorischen Chimären, die durch unsere Leiber sich ziehen]
, den ich nicht ohne deine Hilfe bewältigen kann. Rachel, sprich mit mir!
Aber so wie Finn seinen Weg gegangen ist, ohne das finale Gespräch mit der Freundin zu suchen, muss ich natürlich ohne zusätzliche Hinweise Rachels auskommen. Alles steht geschrieben.
[…] ich übergebe mein zerebrales Dröhnen an die See. Es hat all das Suchen und Ächzen der letzten Jahre mir gezeigt, dass ich nur eine Antwort kenne auf jenes Inferno, das in mir tobt: „Zu lieben und zu lieben und zu lieben und zu lieben; mehr noch: sich zu vergessen und füreinander da zu sein; einander die Notwendigkeit zu versichern, zusammenzugehören; zuletzt – mit jedem Atemzug näher aneinander heranzurücken.“
Rachel lebt in Berlin, der Stadt, die einem Ozean gleicht, in dem viele treiben, manche untergehen und die doch queeres Leben ermöglicht. Rachel ist in fester Beziehung mit Noah und mit Finn und Luca befreundet.
Rachel nimmt mich von der ersten Zeile des Romans mit in ihre Innenwelt:
Ich suche nach Leben. Ausgebreitet auf dem Bett, das mir letzte Zuflucht ist vor der Heimsuchung des fremden Blickes, ist mein Körper äußerlich wohl zusammengehörend, aber innerlich zertrennt und nicht länger zu fassen.
Ich werde Zeuge einer Transition, Zeuge ihrer emotionalen Verarbeitung.
Die Transition ist notwendigerweise ein Akt der Verausgabung und ein Vorgang von solcher Opulenz, dass alle herkömmliche Symbolik hinwegschmilzt unter dem Brennglas des sich nach Metamorphose sehnenden Blickes. Nicht minder notwendig ist die manische Zuspitzung der Sprache, in der sich diese Transformation ereignet, denn das Ringen um Existenz, das aus ihr spricht, ist die einzige Wahrheit, die ich in diesem Augenblick der Verlorenheit noch kenne.
Dass die geschlechtsangleichenden Maßnahmen, die Rachel ergreift, zu einer Belastung der Beziehung mit Noah werden, das lässt sich schon früh erahnen.
„Reicht dir das?“, fragt Noah mich erstaunt, als ich ihm auf einem Spaziergang durch den Tiergarten von meinem Ansinnen berichte, die Transition mikrodosiert zu beginnen.
Ich schleiche mich wieder ins Bett zu Noah und beginne mich innerlich bei ihm zu entschuldigen: „Verzeihung, Verzeihung, dass ich diesen Weg jetzt gehe, an dessen Ende unsere Entzweiung stehen wird, aber ich muss mehr von diesem Gefühl haben, das die mir unbekannte Frau mir geschenkt hat. Ich muss einfach. Du verstehst das doch.“
„Ich habe nachgedacht und ich denke …“, ich schlucke ein letztes Mal und suche nach Noahs Hand, “ … dass ich die GA machen will.“
Im nächsten Augenblick zieht Noah seine Hand zurück und Finn und Luca schauen mich verblüfft an, wollen schon Protest einlegen, halten sich dann aber zurück und sehen mich frustriert an.
„Wieso?“, fragt Noah kalt.
Es ist vorbei. Mit dem Verlust der Erotik hatte auch diese Beziehung ihre schützende Funktion verloren, war keine Brandmauer mehr gegen das Getöse der Welt, sondern ein im Wesen doch unbewohnter Ort geworden. Denn die Essenz war uns abhandengekommen: das schier endlose Suchen des Begehrens. Stattdessen befanden wir uns in einer Substitutionsbehandlung in Form von Freundschaftlichkeit und wohlwollendem, aber letztlich desinteressiertem Nicken.
Ich denke nach über einen Satz, den ich zum Thema Bindungstheorie gelesen habe. Er lautet:
Die unangefochtene Beständigkeit einer Bindung nennt man Liebe.
(in: Grossmann, Karin/Grossmann. Klaus E.: Bindungen. Das Gefüge psychischer Sicherheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2012)
Die Bindungen (und ihre Störungen) zu den primären Bindungspersonen Mutter und Vater spielen in Rachels Lebenssituation eine zentrale Rolle.
Aber um wirklich frei zu sein und in den Schlund der Veränderung zu blicken, muss man die Mutter verlieren, sich lösen vom Phantasma ihrer Umsorgung […]
Später noch, als wir mit Sand am ganzen Leib im Taxi sitzen, das rhythmisch über die Bodenplatten rückt, lehne ich mich an sie. Es dringt die vorbeirauschende Landschaft in mich ein und zerstreut die Klarheit des Blickes, während ich von ihrer Liebe, die aus einem frisch sprießenden Bund zwischen geliebter Tochter und liebender Mutter strömt, verzehrt werde.
Ich suche zum Abschluss irgendein Superlativ für diesen Roman, der der Diskretion seiner Erzählweise, seiner Innenweltlichkeit gerecht wird, wäge ab, das eine oder andere Wort schaukelt auf dem weiten Ozean, da höre ich eine Stimme, die alles wegwischt. Ich kenne sie nicht, kann sie aber sicher Rachel zuordnen.
„sag mir, wie deine Pronomen lauten, damit ich dich richtig lieben kann“