Raoul Eisele und Monika Ernst: „immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman“

Hinfälligkeit des Hoffens

ich vermisse dich, ich vermisse unsere Gespräche und führe sie hierdurch fort, denn immer übersieht und vergisst man, was man gerne hätte gesagt; dort wo ich unsere Leerstellen von damals erkunde, scheint es mir, dass nur du dazu im Stande wärst, mir zu helfen, du dieses kurze Aufleuchten, als wäre hinter jedem Halm ein Haar von dir, eine Wimper […]

schreibt der Protagonist Emile im September 1989 aus Paris an seine Schwester Kristine. Raoul Eisele (Text) (* 1991) und Monika Ernst (Illustration) (* 1996) erzählen eine Familiengeschichte, die von Brüchen gezeichnet ist.


nur manchmal übergab ich mich noch und füllte unser allabendliches | Schweigen mit meinem angefressenem Auswurf einer sich liebenden Familie

Wie dieses Schweigen, diese Leerstellen füllen? Mit welcher Sprache?

An welcher Stelle des Lebens wird aus einer zunächst vielleicht nur melancholischen Suche nach einer verlorenen Kindheit das Krankheitsbild der Depression?

Von Gedankenabbrüchen sind Emiles Erinnerungen gekennzeichnet. Er vertieft sich darin, detailverliebt, die Wohligkeit der Erinnerung an die schönen Seiten veratmend, dann aber wird er bedrängt, von dem Knäuel ungelöster Fäden. Auf einem steht ein Zitat von Susan Sonntag: Depression is melancholy minus its charms.

Die Lektüre dieser Graphic Novel ist ein Lesen gegen Satzabbrüche, ein Lesen gegen Krankheit, ein Rekonstruieren einer Familiengeschichte über mehrere Generationen, aber zu einer Heilung will es nicht kommen. Es ist eine anstrengende Lektüre, sie verlangt von den Leserinnen und  Lesern ab, sich dem Rhythmus der Depression anzupassen, die Krankheit mitzugehen, sie mitzutragen.

Wer sich darauf einlassen kann, wird von Eiseles opulentem Text und Ernsts Illustrationen reich entlohnt. Es geht hier nicht in erster Linie um Schönheit, sondern darum, eine weitverbreitete psychische Erkrankung zum Gegenstand eines Buches zu machen, das nach Ursprungsbildern sucht, die zur Metapher der Krankheit werden können.

[…]
irgendwann werde ich riechen

werde den Duft alter
Hölzer an mir haben, ein wenig

modrig und mit
Motten gespickt, aber

doch diese eine Decke sein,
die man vermisst, die

man als Kind schon so geliebt,
denn nur in dieser schläft man

wirklich, ist man
zärtlich zugedeckt;

und dass Vergangenheit
immer modrig riecht

muss wohl einfach
der Zeit geschuldet sei

Wieder ein Abbruch, es fehlt ein n, aber das Sein ist eben nicht abgerundet und den Erwartungen entsprechend.

Wofür steht das fehlende n?
Nie, November, Nebel, Neugeborene, Name, Nachbarschaft, Nachvollziehbares, Natur, Narrativ, Nächte, Nähe, Nacktheit, Nestersuche?