Drei Worte auf einmal
so lautet der Titel eines überaus erfolgreichen Romans meiner Kollegin Maria Knissel. Ich erinnere mich, wie sie damals den Text in der Darmstädter Textwerkstatt II von Martina Weber vorstellte, noch mit einem Arbeitstitel versehen, den ich nicht überzeugend fand. Von ihrem Text ausgehend schlug ich Drei Worte auf einmal vor.
Es geht, kurz gesagt, um geschwisterliche Liebe zwischen dem Protagonisten und seinem nach einem Verkehrsunfall schwerbehinderten älteren Bruder, der kaum noch Worte vorbringen kann. An einem guten Tag schafft er es, Drei-Wort-Sätze zu bilden.
Maria widersprach zunächst meinem Vorschlag mit dem Argument, Drei Worte auf einmal erinnere sie immer an den Satz: Ich liebe dich! Ich konnte sie von der Richtigkeit des Titels überzeugen: Ja, aber darum geht es doch! Ganz gleich, was der ältere Bruder an den guten Tagen dem Jüngeren mit drei Worten sagt: Es geht um die Liebe!
Was hat das nun mit Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestarde (Text) (Übersetzung ins Deutsche: Anna Taube), Valeria Docampo (Illustration) zu tun?
Stellen wir uns eine Welt vor, in der Wörter nicht mehr frei verfügbar sind, sondern privatwirtschaftlichen Interessen einverleibt werden. Stellen wir uns vor, Luft oder Wasser wäre nicht mehr frei zugänglich.
Oh ja, das ist längst bittere Realität!
Und wenn ich Luft mit Sauerstoff (O2) einmal gleichsetze, muss ich vermutlich schon Sauerstoff can do schreiben, um nicht eine Marke zu verletzen und eine Unterlassungsklage an den Hals zu bekommen.
In eine solche Welt führt uns das Buch Die große Wörterfabrik. Um Wörter sprechen zu können, müssen sie gekauft und geschluckt werden, erst dann können sie ausgesprochen werden. Für die Reichen ist das kein Problem, die restliche Bevölkerung ist auf Restwörter im Müll, Schlussverkäufe oder Zufallsfunde angewiesen.
Paul hat drei Wörter in seinem Netz gefangen. Die möchte er Marie, er ist in sie verliebt, zu ihrem Geburtstag vorsprechen. Es sind nicht die richtigen Wörter, um seine Gefühle für sie auszudrücken, aber was soll er machen?
Er hat nur: Kirsche, Staub, Stuhl.
Im Treppenhaus triff er Marie, sie lächeln einander an, doch dann platzt Oskar, Sohn reicher Eltern, dazwischen und spult ein sehr teures Wörterprogramm ab, zu viel, zu laut, zu unverschämt!
Paul sitzt traurig auf der Treppenstufe, aber schließlich glaubt er an die Macht der Gefühle, an die Macht der Liebe. Er steht auf und wirft Marie seine Worte zu: Kirsche! Staub! Stuhl!
Und Marie, stumm, weil sie keine Wörter mehr zur Verfügung hat, gibt Paul einen Kuss. Die Buchstaben flattern wie rote Schmetterlinge und Paul nimmt sein letztes Wort, das er aufgehoben hat für die besonderen Momente des Lebens: Nochmal!
* * *
So ist hinlänglich der Beweis erbracht, dass es nicht darauf ankommt, was man sagt, sondern wie man es sagt, wie man sein Herz sprechen lässt.
Auch erklärt sich die Existenz von Geheimsprachen. Nicht jede Liebe darf so offenbart werden, wie die von Paul und Marie. Die Literaturgeschichte ist voller Liebesbeziehungen, die nicht sein durften.
Beseelt von der Richtigkeit und Reinheit der Worte rufe ich allen Eurydikes, Héloises und Sodominchens meine Version zu: Blech! Laube! Tisch!