Lote Vilma Vītiņa: „Der kleine Dichter und der Duft“

Petrichor

Es war ein wolkenverhangener Tag, und der kleine Dichter hatte keine Idee, worüber er schreiben könnte. Da ging plötzlich das Fenster auf und eine blaue Wolke kam herein. Sie schwebte dem Dichter in die Nase! Das war der Duft von Sommerregen.  […]

So beginnt Der kleine Dichter und der Duft der lettischen Illustratorin und Lyrikerin Lote Vilma Vītiņa (* 1993), ein Kinderbuch ab 4 Jahren, das von Lil Reif ins Deutsche übertragen wurde.

Erst kürzlich lernte ich ein neues Wort. Es bezeichnet den Geruch ausgetrockneter Erde nach einem plötzlichen Sommerregen. Ich denke, jede*r kennt diesen muffigen, erdigen Geruch. Nur wenige, vermute ich hingegen, kennen das Wort dazu: Blut der Götter, das auf Steine fällt = Petrichor.

Dabei ist das Wort etwas älter als ich, es erblickte 1964 das Licht der Welt. Geburtshelfer waren eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler aus Australien.

Solcherlei regt den kleinen Dichter in mir an. Er plant, darüber ein Gedicht zu schreiben. Noch aber sitzt er vor dem großen, leeren Papier.

Und so geht es dem kleinen Dichter in Vītiņas Buch. Aber er entscheidet sich instinktiv, den Kopf, den Intellekt auszuschalten und stattdessen den Gerüchen, den Düften und dem Gestank nachzugehen. Er verlässt den Schreibplatz in seiner Wohnung und geht in Stadt und Natur. Er lässt sich von der Sinnenswahrnehmung seiner Nase leiten, bis er schließlich seine Schreibblockade überwindet, um alles um ihn herum zum Thema seiner Lyrik zu machen. Er schreibt solange, bis kein Papier mehr zur Verfügung steht und die Menschen, seine Gedichte lesend, die Welt riechend neu entdecken.

Welch schöne Utopie, dass Lyrik Menschen feinfühliger machen kann!

Bei der Präsentation des Buches auf der Frankfurter Buchmesse am 18.10.2024 erzählte die Autorin von einem Workshop, den sie am Vormittag  mit Kindergartenkindern durchgeführt hatte. Dabei sollten sie unter anderem ihre Lieblingsdüfte und die schlimmsten Gerüche zeichnen.

Das ist anspruchsvoll! Gut, eine stilisierte Blume, das bekommen 4 bis 5-Jährige hin. Wie aber zeichnet man Petrichor?

Jedenfalls, so konnte man heraushören, hat es den Kindern Spass gemacht, kreativ zu werden und Gerüche zu visualisieren. Nichts anderes tat ja auch die Autorin und Zeichnerin, als sie ihr Buch schuf.

Ich liste einige meiner Lieblingsdüfte auf:
Mein bevorzugtes Parfüm (holzig)
Rosen
Mimosen
Zimt

Meine Blacklist:
Volle Windeln
Autoabgase
Zigarettenrauch
… und auch die im Buch erwähnten nassen Hunde

Ein sehr gelungenes Buch, das ich, gerade in Ausbildung zum Erzieher, einem Praxistest unterziehen werde. Mal sehen, was meine Kita-Kids dazu sagen.

Da es ein Thema ist, das mich auch beschäftigt, kindgerecht zu sprechen bzw. zu schreiben, sei der Hinweis erlaubt, dass die beiden Worte wolkenverhangen und gedankenverloren schön, sicher aber noch nicht im Sprachschatz der intendierten Altersgruppe etabliert sind. Nur sehr pfiffige Kinder fragen da nach: Was heißt das? Literatur im Spannungsfeld zwischen kindgerechter Sprache und Spracherziehung, Sprachförderung.

Es wäre fahrlässig, die Übersetzungsarbeit angesichts eines überschaubaren Textkorpus‘ gering zu schätzen. Im Gegenteil: jedes Wort muss stimmen. Und mein Vertrauen in Autorin und Übersetzerin ist groß. An einer Stelle bin ich jedoch gestolpert.

[…] wie Faulheit riecht […]

Ist hier wirklich die bewegungslose Trägheit eines Lebewesens (Menschens) gemeint, oder doch vielmehr die Fäulnis?

Vielleicht bleibt es ein Geheimnis, so wie es mir unklar ist, woher diese Geruchskombination aus Rauch, Erde und heranziehendem Frost heute morgen kam, als ich das Fenster öffnete.