Nino Haratischwili | Julia B. Nowikowa: „Löwenherzen“

Übergangsobjekt

Bei der Arbeit mit Kindern im Rahmen meiner Ausbildung zum Erzieher sehe ich sie mehr oder weniger täglich: Kuscheltiere, die die neuen Kinder in den Kita-Alltag begleiten; treue Freunde, die stumm sind und doch unbemerkt und unentwegt sprechen, den Kindern Mut zusprechen, die vertraute Situation loszulassen, sich auf eine neue einzulassen und darin heimisch zu werden.

Sprach man früher (und auch heute noch im täglichen Gebrauch) von der Eingewöhnung, die das Kind zu bewältigen habe, um zum Beispiel klassischerweise der Mutter die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, geht die Transitionsforschung heute von einem ko-konstruktiven Prozess aus. Kurz gesagt: Die neue Situation ist von allen zu begleiten und zu bewältigen. Oder noch prägnanter: Die Kinder dürfen nicht allein gelassen werden bei der Anpassungsleitung. Sie ist von den Erziehungsberechtigten, dem Gesamtsystem Familie, Freunden und auch Erziehern und Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern zu leisten.

Um das Kind unmittelbar in der neuen Situation zu unterstützen, sind Übergangsobjekte hilfreich.

Den Theorieblock an dieser Stelle abschließend, verweise ich auf die Objektbeziehungstheorie nach Donald Woods Winnicott, der den Begriff Übergangsobjekt geprägt hat.

Was hat dies mit Nino Haratischwilis Kindertheaterstück Löwenherzen zu tun, das nun als illustrierte Buchausgabe mit Zeichnungen von Julia B. Nowikowa erschienen ist?

Haratischwili bleibt bei der Weltreise ihres selbst gewählten Kuscheltiers, eines Löwen mit schief aufgenähtem Auge, konsequent in der Kinderperspektive, zeigt, wie sträflich Kinder in zumeist bedrohlichen Situationen allein gelassen werden oder allein zurecht kommen müssen. Und wie die Dialoge zwischen Kind und Kuscheltier, die wir als Erwachsene nicht wahrnehmen können, sich abspielen könnten.

Das ist, schlicht gesagt, grandios.

Löwe  Wieso willst du wissen, was Gott für eine Sprache spricht?
Anand  Ich habe ihm einen Brief geschrieben.
Löwe  Auf Bengalisch?
Anand  Na, notfalls kann er ihn sich ja übersetzen lassen.
Löwe  Von wem denn? Von seinen Engeln etwa? Auf Englisch?
Anand  Oder mit einer App, wie der Chinamann. Und auch Gott hat bestimmt ein Smartphone, schließlich ist er Gott.
Löwe  Das ist auch wieder richtig. An welche Adresse schickst du denn deinen Brief?
Anand  Oropa. Du musst ihn für mich mitnehmen.
Löwe  Wieso Europa?
Anand  Da lebt er bestimmt, und du fährst ja auch dorthin.

Und los geht die Reise des so von Anand beauftragten Löwens. Haratischwili beleuchtet acht Szenen, die von Bangladesch nach Deutschland, Senegal, Mali, Spanien, Frankreich, Indien zurück nach Bangladesch führen. Es gibt Dialoge von Kindern mit Erwachsenen und von Kind zu Kind (auch die ungeborenen Zwillinge, die in einer Leihmutterschaft von Anands Mutter für den europäischen Markt ausgetragen werden, sprechen miteinander).

Amari  Kiano, ich habe Angst.
Kiano  Wovor?
Amari  Vor der Fahrt. Im Laster gibt es keine Fenster, stimmt das?
Kiano  Ja, aber nur, weil sonst alle da reinwollten, wenn sie euch dadrin sehen würden. Sagt mein Vater.
Amari  Aber ich habe Angst im Dunkeln.

Kiano, Sohn des Schleusers und zukünftiger Geschäftsmann (Ware: Hoffnungen – Währung: Geld und was sich zu Geld machen lässt) rät Amari zur Imagination und überlässt ihm für die Flucht nicht einfach ein Kuscheltier, sondern den Zauberlöwen, der die Fähigkeit besitzt, Amari bei Gefahr unsichtbar zu machen: einfach am Schwanz ziehen!

Amari wird nach Oropa gelangen, seine Familienangehörigen ertrinken im Mittelmeer. Am Strand trifft er Vanya und berichtet ihr über seine Flucht.

Amari  Im Raumschiff war es supereng. Meine Familie, viele Menschen und noch eine alte Frau. Wir wollten alle zum neuen Planeten und ganz viele Mangos essen. Und wir sind voll weit geflogen. Ganz lange und so richtig hoch. Und es war dunkel und heiß, und wir hatten wenig Platz und konnten nicht aus dem Fenster gucken. Manchmal sind wir auf der Erde gelandet, weil wir aufs Klo mussten, und dann sind wir wieder weitergeflogen. Und wir waren alle müde, und die alte Frau wurde richtig krank, und manchen war es einfach zu hoch und zu schnell, unser Raumschiff, und sie mussten kotzen. Aber mir machte es nichts aus. Ich bin ja ein Löwe und kann einiges ab.

Die Illustrationen von Nowikowa sind vorwiegend Kapitel einleitende, seitenfüllende, teils colorierte Zeichnungen, die den Bleistiftduktus noch erkennen lassen. Verschiedene Motive werden zusammengesetzt. Die Gesichter der Kinder verweisen auf klassische Portraitzeichenkunst, die uns erlaubt, die Kinder anzusehen und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Nowikowa variiert, löst auf, spielt mit ihren gegenständlichen Zeichnungen (für mich besonders gelungen im Kapitel 5. Spanien – Amari und Vanya).

Löwenherzen ist ein Theaterstück für Kinder und Erwachsene, das es ermöglicht, die Komplexität unseres Lebens im 21. Jahrhundert (Stichworte: Klimakollaps, Flucht, Armut) ko-konstruktiv zu verstehen. Wir dürfen unsere Kinder nicht allein lassen auf dem Weg in ihre Zukunft, an deren Zerstörung wir kräftig teilhaben. Möge diese Buchveröffentlichung dazu beitragen, dass Haratischwilis Stück an den hessischen Bühnen inszeniert wird.