Robert Seethaler: „Der Trafikant“

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Weil ich Trafikant bin
Robert Seethaler schreibt „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“

Am Ende liegt eine „merkwürdige Stille über der Stadt“, die kurz darauf durch ein Vibrieren der Luft zerschnitten wird. Anezka beginnt, um ihr Leben zu laufen. Vielleicht tropft ihr noch einmal ein „Burschi“ aus dem Mund und vielleicht würde Franz, lebte er noch, ein letztes Mal antworten: „Nenn mich nicht Burschi! Mein Name ist Franz Huchel.“ Es ist der 12. März 1945, die Alliierten schicken sich an, ihre Bomben über Wien abzuwerfen.

Romane, deren Spannungsbögen außerhalb der erzählten Geschichte liegen, können von hinten nach vorne besprochen werden. Sie laufen keine Gefahr, vom Kritiker die Pointe zerredet zu bekommen. Robert Seethalers 2012 veröffentlichter Roman „Der Trafikant“ gehört in diese Kategorie. Wir lesen die Geschichte des Franz Huchel vom Anfang und im Grunde wissen wir anhand der geschichtlichen Fakten vom Ende. Alles fügt sich selbstverständlich und leicht, unabhängig von der Schwergewichtigkeit der Handlung, die in den Jahren 1937 und 1938 angelegt ist.

Am 7. Juni 1938 wird Franz von der Gestapo abgeholt und im Hotel Metropol einer Behandlung unterzogen, die er nicht überleben wird. Zuvor hatte er mit dem Finger auf Wien gezeigt, als er die Hose seines bereits ermordeten Lehrmeisters Otto Trsnjek an einem Fahnenmast hisste, wo zuvor eine Hakenkreuzfahne aufgezogen war.

Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in diesem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. […] Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. […] Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben am Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten den Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg.

Am 4. Juni 1938 verlässt Professor Dr. Sigmund Freud mit seiner Familie Wien. Die Reichsfluchtsteuer hat einen Großteil des Vermögens aufgezehrt. Franz kommt noch an den Bahnsteig, kann aber wegen des Gedränges auf dem Bahnsteig nur aus der Ferne beobachten, wie Tochter Anna, Freud in den Waggon schiebt.

Am 3. Juni 1938, bei ihrem letzten Gespräch, hatte Franz zu Freud gesagt:

„Und Sie kommen ja zurück. In jedem Fall und ganz bestimmt kommen Sie zurück. Weil Heimat ist Heimat, und Zuhause ist Zuhause. Und irgendwann wird sich der Hitler wieder beruhigt haben. Und alle anderen auch. Und alles wird wieder so sein wie früher. Oder was meinen Sie, Herr Professor?“

Anezka, dieses böhmische Mädchen, das Franz‘ Hormonhaushalt so durcheinander bringt, ist jetzt mit einem SS-Offizier zusammen.

„ Ach so ist das“, sagte Franz nach einer Weile. Anezka blinzelte träge.
„ Ja, so ist das“, antwortete sie.

Am 16. Mai 1938 werden Franz die persönlichen Gegenstände von Otto zugestellt. Es ist die Mitteilung „vom Ableben des Ihnen bekannten Trafikanten Herrn Otto Trsnjek“.

In vielen kleinen Schritten ließe sich die Handlung rückverfolgen, etwa der Tag, an dem Franz beginnt, seine Träume zu notieren und auf das Schaufenster der Trafik zu kleben, Ottos Verhaftung, Franz‘ Sex mit Anezka, die Schmierereien an der Trafik („Judenfreund“), Franz‘ Gespräche mit Freud über das weibliche Geschlecht, die Postkarten, die Franz seiner Mutter schickt, die ersten Lehrtage in der Trafik, diesem kleinen Laden, wo sich Zeitschriften, Zeitungen und Rauchwaren stapeln, wie Otto seinen Lehrling lehrt, Zeitungen zu lesen und sich ruhig zu verhalten, Franz‘ Ankunft in Wien. Alles Schritte hin zur Exposition:

An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte.

Es sind schon viele lobende Worte über Buch und Autor aus den Trichtern maßgeblicher Feuilletonredaktionen in die Welt gegangen. Da macht es wenig Sinn, drei Jahre nach Erscheinen des Buches hinterherzukommen wie „die alt Fasnacht“, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Lieber nutze ich den mir gebotenen Raum, einem Tagtraum zu folgen und eine literarische Analogie aufzuzeigen.

Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. […] Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenster winkten zurück.

Warum werde ich das Bild des Trafikanten Otto nicht los, der Einbeinige, der sich mit seinen Krücken durch die Welt bewegt? Ich sehe dieses Kind und ich sehe tagträumend Otto in diesem Deportationszug. Und ich sehe das Winken des Kindes. Das erinnert mich an einen Text, der mich damals im Deutschunterricht der sechsten Klasse sehr gerührt hatte. Eben habe ich nachgeschaut und bin erstaunt: „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz ist aus dem Jahr 1949. Nie hatte ich mit diesem Text Wunden aus einem gerade zu Ende gegangenen Krieg in Verbindung gebracht. Vielmehr die eigene Verletzlichkeit aus meinen Kindertagen der Siebziger Jahre. Wie auch immer: die Melodie, die Seethaler in dieser Szene anspielt, findet sich bei Lenz in der Begegnung des winkenden Kindes am beschrankten Bahnübergang und dem Zurückwinken des Versehrten mit dem an einer Krücke festgebundenen Taschentuch wieder. In einem kurzen Moment treffen sich bei Lenz und bei Seethaler Ungleiche, für einen kurzen Moment erkennen sie sich in ihrer Menschlichkeit. Das ist großartig.