Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“

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„Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt.“

Katja Petrowskaja macht die Suche nach ihren Familienangehörigen zu einem Vornamen; all die gedachten Möglichkeiten, die die Fakten dort ersetzen müssen, wo die Leere, das Schweigen, der Verlust übermächtig ist, all die Zweifel, all die Verzweiflung an diesem Labyrinth „Familie“ : Vielleicht ist der erste Vorname, Esther der zweite Vorname ihrer Urgroßmutter.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.


Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, schreibt in deutscher Sprache, in der Sprache derjenigen, die ihre Vorfahren ermordet haben. Wie sie diese Sprache nutzt, sich aneignet, um konzentrisch um Täter und Opfer zu kreisen, in einem Buch, das kein Roman ist und ausnahmsweise auch nicht als solcher bezeichnet wird, sondern als Geschichten, ist gleichermaßen eindringlich wie für Nachfolgegenerationen der Täter schamerfüllend. In diesen kleinen, wirkungsstarken Spiegel zu schauen, den die Autorin uns vorhält, ist schmerzhaft. Leicht darüber hinwegzusehen, ja! Was geht mich ihre Suche an? Aber einmal diesem Spiegel nachgegangen, einmal die Maske der Unangreifbarkeit abgelegt, die den Nachgeborenen mitgegeben wurde, spüren wir die Kraft der Worte, die Petrowskaja auf der Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit aufreibt, umtreibt. Das gehört zum Besten, was deutsche Sprache im Zusammenhang mit der Shoa hervorgebracht hat.

Das Buch macht Mut, diese Familiensuche zu unternehmen, gerade wenn die Orte Orte der Vernichtung und heute des Gedenkens sind. Es sind viele unterwegs. Und viele tragen immer noch die unbeantworteten Fragen mit sich herum.

Diese reichen oft weit vor die Zeit des 2. Weltkriegs. Wenn Petrowskaja nach Warschau reist und ihr das Wort „Ghetto“ die Luft nimmt, zeigt das, wie schwierig die Spurensuche ist, die weiter zurückreicht, als die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Ich versuchte mich dagegen zu wehren, ich wiederholte, dass das Ghetto natürlich das Wichtigste sei, ich hier aber eine Geschichte suchte, die viel früher anfange, meine Großmutter sei 1905 in Warschau geboren, mein Urgroßvater habe hier bis 1915 eine Taubstummenschule gehabt und Schluss.