Raoul Schrott: „Die Kunst an nichts zu glauben“

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Wo fromm ein eitel Spiel mit dem Schein

Ich gebe zu, für den kurzen Moment einer Lesung (Stadtkirche Darmstadt, 02.10.2015) habe ich an das Vorhandensein einer historischen Schrift in der Biblioteca Classense geglaubt, die Raoul Schrott als seine Entdeckung ausgibt: das „Manual der transitorischen Existenz“. Wäre ich auf der Höhe der Zeit und des deutschsprachigen Feuilletons gewesen, wäre mir der Trug bereits bekannt geworden. Denn Ende September hatte Hannelore Schlaffer in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben, dieses Manual stamme aus der gleichen Feder wie die Gedichte, entspringe Schrotts Kreation. Das Manual ist demnach ein Fake.

Der Autor hat mich hinters Licht geführt. Ich stelle mir das so vor: eine Einzelführung durch ein Höhlensystem, ich zahle dafür viel Geld, verlasse das Tageslicht, begebe mich im Schein stark leuchtender Taschenlampen in die Dunkelheit. Wortreich erläutert der Führer und befriedigt meine geweckte Neugier. Dann aber erhalte ich einen Schlag auf den Hinterkopf und als ich wieder aufwache, ist es stockdunkel. Kein Führer, kein Licht. Mein Geldbeutel entwendet, meine Papiere weg. Kein Nachweis, dass es mich gibt. Wie die Wunde an meinem Schädel kann ich meine Angst, meine erbärmliche Existenz greifen. Ich taste mich blind voran, stürze, raffe mich auf, stürze wieder und wieder, bleibe endlich liegen. Es macht keinen Sinn, meine Leichtgläubigkeit zu verdammen oder meine Verzweiflung als eine Kunst, (jetzt) an nichts (mehr) zu glauben, zu stilisieren. Ich will überleben. Ich brauche Hilfe. Wer immer mich rettet, mit einem Suchtrupp kommt, ein Seil herablässt oder durchs Gestein bohrt und eine enge Kapsel in meine Tiefe befördert, ich werde ihm danken. Meine Hoffnung verbinde ich mit dem Licht, dabei bin ich kein sonderlich religiöser Mensch. Ich will glauben, ich will an das Leben glauben.

Schlaffer legt in der NZZ nahe, Schrott beziehe mit seinem atheistischen Handbuch einen oppositionellen Standpunkt zu Strömungen der gegenwärtigen deutschsprachigen Literaturszene. Es darf gefragt werden, ob es, um diese Position einzunehmen, eines intellektuellen Überbaus (ich bin geneigt, ihn Vorbau, in der vulgären Bedeutung des Wortes, zu nennen) bedurfte. Eine sinnliche Verführung zum Übertreten der Gebote, hin zur Lüge, um Menschen, in denen die Religionen schwache Sünderlein sehen, zu begegnen? Es gibt direktere Wege, ans Licht der Erkenntnis zu gelangen.

Von helfender Hand aus der Tiefe gerettet, kann ich den Gedichten, die sich zum großen Teil den täglich uns begegnenden Mitmenschen widmen und die deren Auffassung zu Leben, Liebe und Beruf durch wechselnde lyrische Ich-Figuren ausbreiten, nicht mehr unvoreingenommen begegnen. Die Ernsthaftigkeit, die Loyalität ist zerbrochen. Oder war sie nie intendiert?

Das ist bedauerlich, denn die Gedichte Schrotts fühlen sich zart in die Leben anderer Menschen ein. Da werden aufrichtige Sätze im Kleinen, im Beiläufigen, im Alltäglichen gesprochen. Doch drehe ich mich ständig um, mein Misstrauen will nicht weichen. Treibt wieder jemand sein Spiel mit den Menschen?

In der Reihenfolge ihres Auftretens sprechen durch die Worte Schrotts zu uns die Fotografin, ein Straßenbauarbeiter, der Busfahrer, der Reisende, der Museumswächter, der Dorfpolizist, der Taucher, der Forstarbeiter, der Stahlkocher, der Pizzabäcker, der Schlachter, die Ärztin, der Kranke, die Ornithologin, der Maler, die Primatologin, die Kassiererin, ein Liebespaar, der Mauerbauer, ein Mann der Feder, ein Flüchtling, ein Soldat, der Architekt, die Dolmetscherin, ein Richter, ein Pfarrer, der Gefängniswärter, der Säulenheilige, ein Informatiker aus dem Senegal, ein Philosoph, die Souffleuse, ein Schausteller, die Schriftstellerin und die Rückenschwimmerin.

Es ist der Taucher, der „in einem schleier aus algen und sand“ die Selbstmörder aus dem Fluss herausfischen muss. Das Gedicht endet mit dem Satz „auch wir fristen das dasein in solchem rauch · obschon ich darin ans licht glaube“.

Ich fühle eine verwandte Seele. Ein Glaube ans Licht, das erinnert mich an die dunkle Höhle, als ich dalag, verschleppt, meiner Existenz beraubt. Al Nur, das Licht, nicht in einer transzendenten Deutung, sondern in einer auf das Diesseits beschränkten, praktischen Anwendung.

Sind die Gedichte Schrotts ein Plädoyer für die Einmaligkeit des Lebens im Diesseits? Sind sie eine zornige Fortführung jenes „Mußt mir meine Erde/Doch lassen stehen/Und meine Hütte, die du nicht gebaut“? Negieren Sie Transzendenz? Nein. Das Manual und seine erfundene Geschichte wollen Atheismus evozieren. Aber, glaube ich, sie schaffen es nicht, weil sie sich aus dem mehrdeutigen Spiel Schrotts nicht zu befreien vermögen. Dazu passt das Kokettieren mit dem Thema unter dem Dach der Kirche bei der genannten Lesung. Darf man Gottlosigkeit in einem Gotteshaus zelebrieren? Wenn es das Publikum, den Pfarrer und den Autor vergnügt, warum nicht!?

Als Leser bleibe ich etwas ratlos, führungslos. Das heißt nichts anderes: ich muss mich auf meine Autonomie besinnen, vorgegebene Lehren und Erkenntnisse in den Wind schreiben und mich selbst in diesen Gedichten entdecken. Doch welche Maßstäbe lege ich an? Bin doch nicht alleine auf der Welt, sondern kleinster Teil einer Gesellschaft, die täglich durch Politik, Religion, Geld, Empathie, Egoismus und vieles mehr neu geknüpft wird.

wo alles möglich aber nichts wirklich ist · in der schwebe
wie der himmel · sein lichtriss von unbekannten orten
zu denen keine strassen führen – nur fragen ohne antworten