„Die Beichte“ des georgischen Revolutionärs und Schriftstellers Tschola Lomtatidse (1878 – 1915) versammelt fünf Erzählungen, die, wie wir aus dem Vorwort von Dato Barbakadse erfahren, der lyrischen Prosa und gleichsam der klassischen Moderne der georgischen Literatur zuzurechnen sind. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte vom Artschil Chotiwari, Steffi Chotiwari-Jünger und Nino Stoica.
Diese uns in Mitteleuropa ferne Literatur zugänglich zu machen, ist ein Verdienst von Uli Rothfuss, dem Herausgeber der Kaukasischen Bibliothek, und dem Verleger Traian Pop.
Wir reisen nicht nur in die Ferne, sondern auch in eine längst vergangene Zeit, deren gesellschaftlichen Umstände sich stark von den heutigen unterscheiden. Wie lässt sich die Sprache rezipieren? Nun, ich stelle mir vor, dass die Übersetzer sich diese Frage gestellt haben. Ich kenne die georgische Sprache nicht. Welche Wandlungen hat sie im Laufe der letzten hundert Jahre erfahren? Wie gelingt es, historisch verortete Sprache in einen zeitgemäßen Zusammenhang zu stellen?
Die Vorrede, die Würdigung, die Fragen, sie weichen aus und weisen auf eines hin: meine großen Schwierigkeiten mit den Texten.
Wenn es stimmt, dass Lomtatidse seine beste Prosa im Gefängnis geschrieben hat, dann hat er als Revolutionär zeitlebens gespürt, wie kostbar Zeit ist. In Freiheit musste er die Zeit für seine Sache nutzen, agitieren, Menschen überzeugen, Reden halten, erst in Gefangenschaft fand er Zeit zur vertiefenden Ausarbeitung seiner Reflexionen mittels Literatur. Aber welcher Gestalt ist diese Literatur?
Ich möchte etwas näher auf die Erzählung „Vor der Hinrichtung“ eingehen.
Diese Prosa ist politisch. „Vor der Hinrichtung“ muss als ein Fanal gegen die Todesstrafe gelesen werden.
Montagmorgen
Jetzt fühle ich es genau: sie werden mich hängen. Ganz genau, sie werden mich hinrichten! Es war einmal ein Mann, und diesen Mann gibt es nicht mehr!
Das habe ich heute Morgen im Schlaf gespürt. In der gleichen Minute sprang ich wie besessen von der Pritsche auf, zog mich an, ging mit verwirrten Gedanken zum Waschbecken und begann das Gesicht zu waschen. Je länger ich es mit kaltem Wasser benetzte, desto klarer fühlte ich meine Lage, umso deutlicher erstand mir mein unvermeidliches Schicksal vor Augen: der Tod am Galgen. Ich lockerte den Hemdkragen und betastete sehr, sehr lange meinen Hals; ich betastete ihn, und es erfüllte mich beinahe mit Freude, wie sich das Fleisch unter den Fingern tanzend bewegte.
[…]
Aus der Situation im Todestrakt ergibt sich, dass die Erzählung keine Handlung, keine Dialoge aufweist, sondern durch Erinnerungen und inneren Erlebnissen aufgefüllt wird. Wer würde im Angesicht des Todes nicht Rückschau halten? Wir folgen erinnerten Gesprächen und einem inneren Monolog, jedenfalls einem Sprechen, um des Überlebens Willen. Dabei wird die Zeit gedehnt. Ich meine hierbei das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. Die erzählte Zeit reicht von Montag morgen bis Freitag früh. Bei rund 60 Seiten brauchen wir selbstverständlich keine Arbeitswoche, um den Text zu lesen. Objektiv betrachtet, wird die Zeit demnach gerafft. Subjektiv dehnt sie sich in die Länge, ausgelöst durch Hoffnungslosigkeit, Unentrinnbarkeit. Insofern ist „Vor der Hinrichtung“ quälend zu lesen. Diese Prosa ist zäh wie das Leben, an dem die Figur und der Autor hängt.
In seinen Rückblicken streift der dem Tod Geweihte die Liebe, als glühender Schmerz, der noch seine Erfüllung sucht.
Ich lief weiter und erkannte – zwei junge Frauen.
Die schönen und ansehnlichen Mädchen erreichten mich. Ich erkannte sie: es waren Schülerinnen der Hebammenschule, die wahrscheinlich Dienst im Krankenhaus gehabt hatten und jetzt nach Hause zurückkehrten. Eingewickelt in Mäntel, billige Hüte auf dem Kopf und Hefte unter dem Arm – so schritten sie stattlich und flink dahin. Mein Herz flatterte.
[…]
Es ist auch in den anderen Erzählungen zu spüren: Lomtatidses Frauenbild bewegt sich nicht gerade auf revolutionärer Ebene. Die Weiblichkeit zwischen Begehren, verklärter Mutterschaft oder einer dem Mann nachgeordneten Gesellschaftsstellung.
Der Ehemann wird liebevoll in die Augen seiner Ehefrau schauen, und auch die Frau erwidert kühn seinen Blick und drückt das kleine, unschuldige Kind an ihr Herz – sie wird Angst haben, dass der Ehemann ihr dieses Glück aus der Hand reißen könnte, engherzig sind die Mütter!
[aus: Die Beichte]
Warum hatte ich Chwaramse eine Dumme genannt? Damals erinnerte ich mich nicht an dieses Vergangene, an diese eine Zeile meines Lebens, dessen Erinnerung mich nicht freut. Es wurde beschlossen, künftig wird so nicht mehr herumgealbert. Was ihre Bitte betrifft, auf die Knie zu gehen, das ist kein Problem – man kniet vor einer geliebte Frau und küsst sogar noch ihre Füsse!
Immer und immer mehr wandte sie sich unserer Tätigkeit zu. Sie gründete Frauenzirkel und war gezwungen, den Privatunterricht aufzugeben.
Sie begann sich gründlich in „Politische Ökonomie“ einzuarbeiten, damit sie imstande wäre, die Wissenschaft in den Zirkeln zu übermitteln.
[aus: Ohne Titel]
Bezogen auf das Frauenbild ist diese Prosa konventionell. Immerhin thematisiert das Lomtatidse durch seine vom Ich-Erzähler imaginierte weibliche Figur Chwaramse, wenn diese sagt
Du verstehst es doch, immer Heldengeschichten zu erzählen – warum erlaubst du deiner Frau nicht, eine „Heldentat“ zu begehen? Nach welchem Recht erlaubst du das nicht, erlaube ich zu fragen? Ist es vielleicht deine Liebe der Grund? Dass ich deine Frau bin? Dass du ohne mich nicht leben kannst? Das ist, Wano, das ist doch Verrat an der Sache, der wir beide dienen? Und soll uns denn die Liebe zum Verrat führen? Soll sie uns denn in den Schmutz ziehen? Oder vielleicht bin ich auch nicht deinesgleichen und ebenbürtig?
[aus: Ohne Titel]
Sehr nachdenklich lässt mich nachfolgender Absatz zurück:
Ich riss die Illustration von Zichy aus Rustawelis „Mann im Tigerfell“ heraus und schenkte sie einem muslimischen Georgier. Ich bin ein helles Köpfchen: ich weiß, dass es für einen gläubigen Muslim nach dem Heiligen Buch verboten ist, sowohl ein Bild anzunehmen als auch zu erwerben. Und mit diesem Geschenk möchte ich ihn gegen Allah aufwiegeln, – nun, warum wurde er auch Muslim, er – ein Georgier, warum hat er Mohammed mit dem Turban unserem Herrgott Christus vorgezogen? Und ausserdem: falls ein vorsichtiger Wächter, ein fanatischer Mullah kurz auf diese Bilder schaut und zerreisst, ist mir das egal! Wie kann man bloss die beiden vergleichen, den Künstler Zichy und Schota Rustaweli! Zichy – der winzige Maler, Rustaweli – der grosse Dichter. Zichy wurde in Ungarn geboren und stiess auf der Suche nach einem Bissen Brot nach Petersburg. Was weiß er schon von unserer Geschichte, unseren Sitten und unserer Sprache.
[…]
[aus: Aus dem Notizbuch]
Da verbindet sich auf unselige Weise Chauvinismus mit Missachtung der Religion einer Minderheit. Das ist dann doch weltweit sehr aktuell, ob beispielsweise Pegida oder Hindu-Fanatismus unter Narendra Modi in Indien.
Ich kann dieses Buch unter Aspekten der Dokumentation lesen. Es müht mich, das Lyrische dieser Prosa zu erkennen. Aber, wie geschrieben steht,
Was weiß er schon von unserer Geschichte, unseren Sitten und unserer Sprache.