Mich in die Hände dieses Buches zu begeben, war eine gute Entscheidung. J.M.G. Le Clézio, Literatur-Nobelpreisträger von 2008, führt mich in „Onitsha“ (Übersetzung: Uli Wittmann) entlang der Westküste Afrikas zu immer neuen Orten, die meine Sehnsucht wecken und es mir ganz leicht machen, mich in den 12-jährigen Fintan hineinzuversetzen. Das Kind reist mit seiner noch jungen Mutter, die er nur noch „Maou“ nennt, nach Onitsha, um seinen unbekannten Vater zu treffen und dort als Familie zu leben.
Onitsha im Jahre 1948 ist ein kleiner Ort am Ufer des Nigers, in den sechziger Jahren Schauplatz von Krieg und Hunger (Biafra-Krieg), heute eine Millionenstadt im Süden Nigerias.
Fintan ist hin- und hergerissen, will seine europäische Heimat nicht verlieren, hat keinen Drang, seinem Vater zu begegnen, der ihm durch Abwesenheit einfach nur ein fremder Mann ist. Andererseits ist er fasziniert von den Bildern und Gerüchen. Auf der Fahrt kommen immer mehr Schwarze an Bord, die den Rost des Schiffes abkopfen und mit dieser Tätigkeit die Überfahrt von einer zur anderen afrikanischen Hafenstadt für ihre Familien und sich erarbeiten.
Fintan sah unermüdlich den Männern zu, die da hockten und auf den Schiffsrumpf hämmerten, als machten sie Musik, als erzählten sie in einer Geheimsprache die Geschichte der an der Kru-Küste gestrandeten Schiffe. Eines Abends kletterte er, ohne Maou etwas davon zu sagen, über das Geländer im Vorderschiff und stieg die Sprossen hinab zum Ladedeck. Er zwängte sich zwischen den Seekisten hindurch bis zu den großen Luken, wo die Schwarzen kampierten. Es dämmerte bereits, das Schiff glitt langsam über das schlammige Meer auf einen großen Hafen zu, Konakry, Freetown oder vielleicht Monrovia. Das Deck brannte noch von der Hitze der Sonne. In der Luft hing der Geruch von Schmiere, von Öl, der beißende Geruch von Schweiß. Im Schutz der rostigen Spanten wiegten die Frauen ihre kleinen Kinder. Splitternackte Jungen spielten mit den Flaschen und Konservendosen. Es herrschte große Müdigkeit. Die Männer hatten sich auf Lumpen ausgestreckt und schliefen oder blickten wortlos in den Himmel. Es war sehr mild und ruhig, das Meer zehrte die langen Wellen auf, die vom Grund des Ozeans kamen und unbeteilgt unter dem Bauch des Schiffes herglitten, bis zum Sockel der Welt.
Niemand sprach. Nur vorn ertönte diese Stimme, die gedämpft vor sich hin sang, und das paßte gut zu dem langsamen Auf und Ab der Wellen und dem Ächzen der Maschinen. Eine Stimme, die nur „ah“ und „eja-oh“ sang, nicht wirklich traurig, keine wirkliche Klage, die leichte Stimme eines Mannes in fleckigen Lumpen, der mit dem Rücken an einer Seekiste lehnte, und dessen Gesicht auf Stirn und Wangen tief geriffelte Narben trug.
[…]
Meine erste Afrikareise, vor zwanzig Jahren, war eine vergleichsweise kurze. Mit dem Flugzeug von Frankfurt, umsteigen in London und einige Stunden später war ich in Dar-es-Salaam. Und doch: obwohl schon damals längst kein Kind mehr, spürte ich diese Anspannung, diese freudige Erregung, als in London fast nur Schwarzafrikaner ins Flugzeug stiegen. Ich erinnere mich noch genau an das Körpergefühl, als mir die Schwüle die Hosenbeine hochkroch, während ich die ersten Schritte aus dem Flugzeug tat. Später der erste tropische Regen, der alles unter Wasser setzte, später der zerlumpte Bettler, in dem ich auf den zweiten Blick einen würdigen Greis erkannte.
Fintan wird ein Jahr in Onitsha bleiben, sein Vater verliert die Arbeit, die Familie kehrt zurück nach Europa, Fintan kommt in ein englisches Internat. Am Ende des Buches macht sich der Erwachsene noch einmal auf den Weg, um seinem Vater ein letztes Mal zu begegnen. Er wird zu spät kommen.
In Dar-es-Salaam blieb ich nur wenige Tage. Ich erhielt die Nachricht vom Tod meines Vaters. Also packte ich erneut meinen Koffer, um meinem Vater ein letztes Mal zu begegnen. Ich kam zu spät.