John Burnside: „Lügen über meinen Vater“

John Burnside: Lügen über meinen Vater

Ein Roman von fulminanter Wucht, würde ich mir, sollte ich für den Verlag eine Kritik von „Lügen über meinen Vater“ von John Burnside auf verwertbare, griffe Formeln untersuchen, markieren. Ich selbst lege bei der Auswahl meiner Lektüre keinen großen Wert auf diese Kritikerstimmenschnipsel, die auf der Rückseite abgedruckt sind und dort abbrechen, wo die Rezension ins Detail geht und differenziert.

Freilich soll diese Besprechung nicht in dieser Formel erstarren. Einen kurzen Moment bleibe ich jedoch noch bei meiner Aussage, bevor ich Burnside als Zeuge zu Wort kommen lasse. Interessanterweise führt wikipedia „A Lie About My Father“ von 2006 (deutsche Ausgabe 2011, Übersetzer: Bernhard Robben) nicht als Roman, sondern als Autobiografie. Eine Autobiografie mit erzählerischen Mitteln zu schreiben, nicht durch die Auflistung von Fakten, führt zum Roman. Freilich: es gibt eine hohe Übereinstimmung von Autor, Erzähler und Figur. Kein Zweifel, John Burnside spricht über seinen Vater. Dem Text ist das nachfolgende Motto vorangestellt.

Dieses Buch liest man am besten als Werk der Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte.

Fulminante Wucht entsteht, wo beide, Vater und Sohn, sich trotz gegenseitiger Negierung im Leben begegnen und es zu Ausbrüchen von Gewalt, Betrug und Selbstzerstörung kommt. „Lügen über meinen Vater“ ist ein schonungsloses, aber auch zärtliches Buch einer Abstoßung, einer Annäherung. Es ist ein großes Buch. (Vorsicht bei solchen Sätzen. Ich weiß: inflationärer Gebrauch führt zu Entwertung.)

Mir wurde in meiner Kindheit nicht beigebracht, dass die Toten an Halloween wiederkehren, doch wurde die Möglichkeit auch nie ganz ausgeschlossen; nein, nicht die Toten kehren wieder, sodern deren Seelen: Ob als einzelner Atemhauch schwindenden Bewusstseins oder als konzentrierte, kompakte Masse, darauf kam es nicht an. Ich wusste nur, da draußen geisterte die Seele in einer ihrer vielen Gestalten umher, als Gespenst oder Wiedergänger, als Lufthauch, Licht- oder Feuergespinst, vielleicht auch nur als unerklärliche Erinnerung, ein im Hinterstübchen meines Gedächtnisses archivierter Schnappschuss, ein Bild, von dem ich bis zu diesem Augenblick nichts geahnt hatte.
So kommt es, dass ich Halloween mein Leben lang mit dem üblichen Anschein von Skepsis und einem Gefühl beinahe absoluter Gewissheit begangen habe. Wann immer möglich, bin ich in all den Jahren an diesem Tag zu Hause geblieben. Ich mache diesen Tag zu etwas Besonderem, zu meinem privaten Fest der Buße und des Gedenkens, und dies zu mehr oder weniger gleichen Teilen. Ich denke an die eigenen Toten da draußen unter den Millionen wiederkehrenden Seelen, denen es in dieser einen Nacht gestattet ist, Orte aufzusuchen, die sie einst kannten, Häuser, in denen sie gewohnt haben, Straßen, auf denen sie zur Arbeit oder zu einem heimlichen Stelldichein gegangen sind. Und ich rufe mir in Erinnerung, warum in meinem Teil der Welt die Lebenden an diesem Tag Feuer aufschichten, die, sobald die Nacht anbricht, überall im dunkelnden Land zur selben Zeit angezündet werden. Anders, als der schlichte Aberglaube will, geschieht dies nicht, um böse Geister zu vertreiben. Nein, Zweck dieser Feuer ist es vielmehr, den Weg zu erhellen und den Geistern ein wenig Wärme zu bieten, sind sie uns doch so ähnlich, dass wir untereinander austauschbar scheinen – die Lebenden und die Toten, Gast und Gastgeber, Hauseigner und Geist, mein Vater und ich.

Doch eines Halloweens ist der Ich-Erzähler irgendwo unterwegs in den Vereinigten Staaten. Er nimmt den Anhalter Mike mit. Sie kommen ins Gespräch und nach einer Weile trennen sich ihre Wege.

Als ich an diesen Augenblick zurückdachte, nachdem ich Mike abgesetzt hatte und weitergefahren war, fiel mir ein, was ich ihm alles hätte antworten können. Ich hätte ihm sagen können, ich sei zu der Auffassung gelangt, dass jemand, der Vater geworden ist, zu einem anderen Mann als jenem wird – oder werden sollte -, der er bis dahin war. Alles Leben ist eine mehr oder weniger verschwiegene Erzählung, doch wird ein Mann Vater, wird seine Geschichte nicht länger nur für die unablässige Wahrnehmnung eines anderen oder einiger anderer gelebt, sondern auch in dieser Wahrnehmung. Vaterschaft ist eine Geschichte, selbst wenn man dies noch so sehr zu vermeiden sucht; eine Geschichte, die nicht nur anderen erzählt, sondern auch von anderen erzählt wird.
[…]
Was meinen eigenen Vater betraf, hätte ich Mike die Wahrheit sagen können, von seiner Trinkerei und dem beschämenden, rührseligen Theater gelegentlicher Reuebekenntnisse. Ich hätte ihm vom Glücksspiel erzählen können, von seinen Anfällen manischer Zerstörungswut, hätte ihm stundenlang von seiner Grausamkeit erzählen können, seiner Pingeligkeit, seiner Art, wie ein Besessener alles an mir schlechtzumachen, als ich zu klein und verängstigt war, um mich gegen ihn wehren zu können. Ich hätte ihm sagen können, dass ich meinen Vater mit einer gewissen Dankbarkeit beerdigt hatte und mit jenem Gefühl, dass er vor langer Zeit vielleicht mit „Abschluss“ umschrieben hätte: beerdigt nicht nur im kalten, klammen Lehm der Stadt mit den stillgelegten Stahlwerken, in der er gestorben war, sondern auch im eisigen Untergrund meines Vergessens.